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Winterfest

Aktualisiert am 09.11.2018 in Magazin

Fotos: Bert Heinzlmeier

Räuchern, einkochen, fermentieren. Was gerade als Foodtrend die Metropolen erobert, praktizieren die Tiroler schon seit Jahrtausenden – um ihre Lebensmittel haltbar zu machen.

winterfest

An Allerheiligen gedenken Christen in aller Welt der Lichtgestalten ihrer Kirche. Auch in Tirol feierte man traditionell am 1. November die großen Männer und Frauen des Glaubens. Aber man feierte auch – das Schwein. Lange Zeit hielt man an diesem hohen Herbsttag den einzigen Schlachttag des Jahres ab. Ein Bauer tötete und zerlegte dann normalerweise zwei Schweine, das musste für ein ganzes Jahr reichen. Die minderwertigen Teile, die Schnauzen, die Füßchen, das Schwänzchen oder die Lunge wurden klein gehackt und zu Würsten verarbeitet. Ein kleiner Teil des Fleisches kam sofort auf den Tisch. „Grians Fleisch“ nannte man das. Grün – wohl in einer Übertragung aus dem Pflanzenreich – war ein Synonym für „frisch“. Den Großteil aber räucherte man. So hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch so gut wie jeder Hof eine eigene Räucherkammer. Ein Brotbackofen dagegen war Luxus, da reichte oft einer für das ganze Dorf.

Graukäse, hier im Reiferaum der ErlebnisSennerei Zillertal, war früher ein Arme-Leute-Essen. Heute gilt er als Delikatesse, die noch dazu sehr fettarm ist.
Graukäse, hier im Reiferaum der ErlebnisSennerei Zillertal, war früher ein Arme-Leute-Essen. Heute gilt er als Delikatesse, die noch dazu sehr fettarm ist.

Moderne Gourmets dürften bei dieser Vorstellung neidisch werden. Räuchern liegt im Trend. Und die Foodies und Hipster in Berlin, London und San Francisco entdecken auch weitere Methoden, Essen haltbar zu machen, sie absolvieren Youtube-Kurse zum Einkochen, bestellen im Restaurant fermentiertes Gemüse. Und imitieren damit, wahrscheinlich ohne es zu wissen, genau die Techniken, die in Tirol seit Jahrhunderten, wenn nicht seit Jahrtausenden, immer weiter verfeinert wurden. Lange Zeit war die Küche Tirols geprägt von Mangel. Vor allem in den Wintermonaten musste man erfinderisch sein. Die kalte Zeit überlebte nur, wer das ganze Jahr über gut vorsorgte. Und vorkochte.

Geräuchert wurde Fleisch in der Alpenregion vermutlich schon seit der Erstbesiedelung. Schon an Knochen, die in der Jungsteinzeit abgeknabbert wurden, finden sich Rauchreste. Im feuchten, kühlen Bergklima war Räuchern die einzige Möglichkeit, Fleisch haltbar zu machen. Die weiter südlich kultivierte Lufttrocknung, mit der die norditalienischen Kelten eine Art Vorläufer des San-Daniele- oder Parmaschinkens fabrizierten, hätte in den Nordalpen nicht funktioniert. Auch Rinder und Schafe, meist aus Notschlachtungen, wurden geräuchert. Und zwar nicht nur der Schinken, sondern auch die Knochen Dazu salzte man alle Teile des Tieres zunächst, legte sie dann mit Wacholderzweigen in eine Beize und hängte sie schließlich für zwei Wochen in kalten Buchen- oder Tannenrauch.

Im 19. Jahrhundert verzerte ein Tiroler nur 18 Kilo Fleisch im Jahr

Wir stellen uns die Küche vergangener Jahrhunderte als besonders üppig vor – wurde doch schließlich noch mit den bloßen Händen gearbeitet, was auf einen hohen Kalorienbedarf schließen lässt. Mit Fleisch wurde der aber nicht gedeckt. Noch im 19. Jahrhundert verzehrte ein Tiroler im Schnitt nur 18 Kilogramm Fleisch im Jahr, das sind 50 Gramm pro Tag. Zum Vergleich: Heute sind es 90 Kilo pro Kopf und Jahr. Auch der Schweinsbraten – den es sowieso nur an hohen Feiertagen zu essen gab – war bis ins frühe 20. Jahrhundert aus geselchtem Fleisch. Er hatte also mit dem heutigen Wirtshausklassiker mit rescher Schwarte nicht viel gemein.

Aroma für die dunklen Monate, von der „Zammer Kräuterhex“. Michaela Thöni-Kohler weiß alles darüber, wie man Kräuter haltbar macht – und wie sie auf Geist und Körper wirken.
Aroma für die dunklen Monate, von der „Zammer Kräuterhex“. Michaela Thöni-Kohler weiß alles darüber, wie man Kräuter haltbar macht – und wie sie auf Geist und Körper wirken.

In der Regel kam Fleisch aber in der klassischen Tiroler Küche nur die Funktion der Würze zu. Aromatisiert wurde damit das tägliche Hauptgericht der Tiroler: das „Miasl“, das Mus oder das Koch – der Brei. Da Tirol nur zu drei Prozent aus Ackerland besteht, war Mehl – zumal das aus hochwertigem und also anspruchsvollem Roggen und Weizen – stets Mangelware. Einfacher war es da, das „Miasl“ zu kochen, zumal man alles hineingab, was sich auf den kleinen, kargen Feldern im Gebirge und in den Gärten anbauen ließ: Neben Gerste, Hafer, Hirse, Mais und Bohnen war das vor allem der Buchweizen. Diese mageren, oft wässrigen Breie gab es oft drei Mal am Tag. Eine gehobene Version des „Miasl“ sind die Knödel und Nocken. Auch hier ging es darum, mit einem Minimum an teuren Zutaten ein Maximum einer sättigenden Speise zu generieren. Besonders deutlich wird dies bei Knödeln, die so wenig Selchfleisch enthielten, dass sie in Tirol scherzhaft „Zweifelknödel“ genannt wurden, weil nicht ganz klar war, ob man die Knödel auch als Fastenspeise hätte essen dürfen.

Immer erlaubt war das Kraut – und auch das definiert bis heute die Tiroler Küche. Die milchsaure Gärung war nach dem Räuchern die wichtigste Art des Haltbarmachens. Vergorenes Kraut hatte schon seit dem Mittelalter das höchste Ansehen – vermutlich brachten die Mongolen diese Art der Zubereitung nach Europa. Man aß es so gut wie zu jedem Gericht, und seine gesundheitsfördernden Effekte wurden geschätzt. „Kommt das Kraut ins Haus, muss der Doktor hinaus“ rühmt ein Kochbuch aus dem 17. Jahrhundert. Tatsächlich enthält Sauerkraut viel Vitamin B12 und ist gut für die Darmflora. Aber in Tirol produzierte man nicht nur Sauerkraut. Auch alle Arten von Rüben, aber auch das Rübenkraut, das heute bestenfalls Viehfutter ist, wurden in schweren Steingutkrügen mit einem Stein beschwert und unter Salzlake vergoren. In Osttirol hat sich bis in die 1950er-Jahre als Alltagsgericht sogar die sogenannte „Gaillitze“ gehalten, ein ungesalzener, ungeschmalzter Haferbrei, den man in einem Holztopf unter Wasser vergären ließ. Dieser Topf durfte nur kalt ausgespült werden, die Milchsäurerebakterien fühlten sich also pudelwohl. Die Gaillitze wartet bis heute auf ihre Wiederentdeckung, aber alle anderen Arten fermentiertes Gemüse sind in Spitzenrestaurants wieder groß in Mode.

Der Mangel hat die Tiroler Küche so gut und so besonders gemacht

Auch beim Einkochen waren die Tiroler kulinarische Pioniere. Über Jahrhunderte stellten neben dem Honig Früchte das einzige Süßungsmittel in der Region dar. Aus Äpfeln wurde Mus, aus Zwetschgen der Zwetschgenröster, aus Marillen Marmelade. Aber auch wild wachsende Früchte, die heute links liegen gelassen werden, wie Kornelkirschen oder Felsenbirnen, kochte man zu Mus ein und reichte es zu Mehlspeisen. Aus Quitten stellte man eine feste „Sulz“ her. In gewisser Weise wurden also die Gummibärchen in Tirol erfunden. Eine weitere Möglichkeit war, Äpfel, Kirschen und alle Arten von Beeren einfach in der Sonne zu trocknen. Die Trockenfrüchte verarbeitete man im Winter zu schwerem, hochkalorischem Früchtebrot: einer Art Energieriegel.

Der Mangel hat die Tiroler Küche so gut und so besonders gemacht. Das ist sie auch heute noch, auch wenn ihr der Mangel längst ausgetrieben wurde. Knödel zum Beispiel sind schon lange keine Zweifelknödel mehr, sondern über und über gespickt mit Speck. Und das ganze Jahr über gibt es „grians Fleisch“. Was mit diesem dauerhaften Überfluss verloren gegangen ist, ist ein nachhaltiger Umgang mit der Umwelt. 90 Kilo Fleisch pro Kopf und Jahr können gar nicht artgerecht erzeugt werden. Und weil sich der moderne Mensch kulinarisch das ganze Jahr über verwöhnt, kann er wohl kaum mehr die Freude und den Appetit empfinden, die ein Tiroler vor ein paar Jahrzehnten oder Jahrhunderten am Schlachttag verspürte.

Das hält sich, und zwar bis zu einem Jahr: Jeden Morgen um fünf Uhr steht Kurt Maier in seiner Backstube in Erl, um sein Schüttelbrot herzustellen.
Das hält sich, und zwar bis zu einem Jahr: Jeden Morgen um fünf Uhr steht Kurt Maier in seiner Backstube in Erl, um sein Schüttelbrot herzustellen.

Für wirkliche Völlereien brauchte es übrigens einen noch wichtigeren Anlass, eine Taufe zum Beispiel oder eine Hochzeit. Wie eine solche Feier aussah, ist aus der Ortschaft Stegen im Jahr 1894 überliefert. Der Festtag begann im Morgengrauen, es wurde die „Morgensuppe“ gereicht: eine braune Suppe mit Hirn- und Milzscheiben. Es folgten: „heißgesottene Würstel; kalter Aufschnitt, mit Schinken, Galantinwurst, Aspik, Butterrosen und Kren; Rindfleisch gemischt mit Rindsbraten, Püree, Kohlrabi und Rohnen; Pökelzunge mit Kraut; Knödel mit Eingemachtem, Faschkotelett mit gedünsteten Äpfeln und Preiselbeeren, Oberswandlen mit Vanillevämat; Hase gemischt mit Lunge in Rahmsoße; Kapeiner mit Punschsulze und Karfiol; Schokoladenkoch mit Weichselsaft; Rollbraten mit Endivie und Kompott; Kaffee; Schautorte, braune Brottorte, gemischte Biskuittorte und Faschingskrapfen; drei Stück Konfekt und eine Semmel pro Person.“

Dieser Beitrag wurde von einem Gastautor geschrieben. 

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