Tirol Hoch Drei
Von der Genusstour bis zur unverspurten Erstbefahrung bietet Tirol alles, was das Freerider-Herz begehrt. Drei Brüder dringen auf ihrer Suche nach dem Winterglück immer tiefer in die Tiroler Bergwelt vor. Und erleben dabei nicht nur große und kleine Abenteuer, sondern merken, wie die gemeinsame Leidenschaft sie über die Jahre verbindet.
Wenn die Tage heller werden, wenn in den Tälern der Schnee schmilzt und die ersten Frühlingsblumen auf den täglich wachsenden Wiesenflecken aufblühen, wird er immer stiller. Im Sommer, wenn strahlende Hitze die Menschen an die Seen treibt, wo sie den Höhepunkt ihres Jahres feiern, kann es sein, dass er sich verkriecht und man lange gar nichts von ihm hört.
Doch spätestens wenn sich im Herbst der erste Schnee ankündigt, leuchtet irgendwann verlässlich eine Nachricht auf dem Telefon auf. „Bin ab Donnerstag im Karwendel“, heißt es zum Beispiel ganz lapidar: „Kommt ihr auch?“
Geteiltes Glück ist dreifaches Glück: Oliver, Frank und Andi (von links) auf dem Schwarzenstein-Gipfel.
Und wie es oft so ist bei Süchtigen, fällt es ihm nicht leicht, darüber zu sprechen. „Es ist dann alles sehr still. Und friedlich“, sagt er, als ich ihn frage, warum genau er im Winter so wahnsinnig gerne in den Bergen ist. „Und ich mag die Kälte.“ Dann schaut er mich an, als wollte ich von ihm wissen, warum er täglich isst und trinkt. „Die Bedingungen lassen jedes Mal einen neuen Zauber entstehen. Man weiß nie, was einen erwartet.“ Wieder eine Pause, er schaut mich an. „Warum fragst du mich das?“, sagt sein Blick. Du weißt es doch selbst! Dann reißt er sich noch mal zusammen. „Ich fahre jetzt schon sehr lange Snowboard, aber ich kann immer noch das Maximum an Glück dabei herausholen.“
Wir führen das Gespräch in einer Berghütte, hoch oben in der Silvretta.
Andi, ich und der Dritte, der beim ersten Wintereinbruch eine SMS erhält:
unser Bruder Frank. Während ich den Topf auf dem Holzofen umrühre, spalten die beiden ein paar Scheite für die lange, kalte Nacht. Wir drei Brüder gehen seit Jahrzehnten gemeinsam in die Berge. Wir sind schon lange keine Teenager oder Studenten mehr, wir haben Beziehungen und Familien, unterschiedliche Jobs, die Zeit und Aufmerksamkeit fordern.
Im Furtschaglhaus schmilzt der Autor Schnee, während Bruder Andi und Bergfreund Ben das Abendessen vorbereiten.
Wir wohnen nicht einmal alle in der gleichen Stadt und sehen uns im Alltag nur unregelmäßig. Aber wenn es in den Bergen kalt und weiß wird, dann ziehen wir gemeinsam los, gehen auf die Suche nach dem besten Schnee mit den wenigsten Spuren, nach neuen Abfahrten und Wiederholungen von Klassikern aus unserer gemeinsamen Bergvergangenheit – der erste Schnee als Familienfest.
Die Sehnsucht nach dem, was Andi als „Maximum an Glück“ beschreibt, versiegt nicht. Eigentlich waren wir noch nie so viele Wochenenden gemeinsam in den Bergen unterwegs wie jetzt als Mitvierziger, in den bayerischen Alpen oder in der Westschweiz, in den Dolomiten und den Karawanken oder sogar mal in Japan oder Georgien. Doch unser Lieblingstreffpunkt ist Tirol. Zuletzt haben wir eine besondere Touren-Initiative gestartet: Wir wollten Hütten in allen Tiroler Regionen besuchen, um am Anfang der Saison ein paar ungewöhnliche Powder-Abfahrten einzusammeln.
Drei Spuren im Schnee, irgendwo in den Ostalpen: Der brüderliche Fahrstil hat sich über die Jahre weitgehend angeglichen – egal, ob auf dem Ski oder dem Snowboard.
Und am Ende, wenn in den Tälern schon die Bäche gurgeln und sich bei Bruder Andi die Vorboten seines allsommerlichen Stimmungstiefs ankündigen, würden wir von weit oben gelegenen Stützpunkten aus die letzten Pulverschneereste in den Nordflanken aufspüren und die Saison mit langen Firn-Abfahrten ausklingen lassen.
Die Alpen sind unser Spielplatz
In diesem Winter haben wir viele schweigsame Aufstiege und jubelnde Abfahrten erlebt, in dichten Schneestürmen und unter gleißend blauem Winterhimmel – und wir haben viel gelernt. Einerseits über Tirol: Wir wissen jetzt, dass man in den Lienzer Dolomiten schon im Hochwinter durch brusttiefen Powder fahren kann oder die Tuxer Alpen von Osten ein immer noch einsames Tourengebiet sind.
Der Autor und sein Bruder Andi auf den letzten Metern hinauf zur Schönbichler Scharte in den Zillertalern.
Frank seilt ab. Es wartet: eine lange, einsame Abfahrt, die er selbstverständlich gerne mit seinen Brüdern teilt.
Vor allem ist uns aber von Tour zu Tour, von Hütte zu Hütte, von Berg zu Berg klarer geworden, wie besonders es ist, dass wir diese Erlebnisse miteinander teilen können. Dass wir uns eben nicht zu Familientreffen verabreden müssen, aus einer Mischung aus Pflichtgefühl und schlechtem Gewissen. Sondern über die geteilte Leidenschaft eine Nähe und Präsenz erleben, wie sie sonst vielleicht nur unter Geschwistern möglich ist, die noch das Kinderzimmer miteinander teilen.
So sind es eben nicht nur die überraschend anspruchsvollen Touren und der irre Schnee im Januar auf der Dolomitenhütte, die mir in Erinnerung bleiben. Sondern unser brüderliches Geschacher darum, wer in der Königsabfahrt dieses Wochenendes das Recht auf die erste Abfahrt hat.
Es ist nicht nur die satte Zufriedenheit nach der Tour auf die Kuhscheibe, die ich mit der Amberger Hütte verbinde. Sondern vor allem unser Dreierrennen im Mittelteil der Tour, als die Schwierigkeiten hinter uns lagen und wir es einfach gemeinsam krachen lassen konnten. Und wenn wir einmal heikle Entscheidungen treffen müssen, wie auf einer Gebietsdurchquerung am Hauptkamm, dann sind es nicht die vereisten Passagen, die in der Rückschau als Erstes vor meinem inneren Auge aufpoppen. Sondern die Sorge, die ich hatte, ob Frank trotz einer ramponierten Bindung sicher mit dem Splitboard traversieren kann. Oder der Stolz, dass Andi trotz seines Widerwillens gegenüber langen Aufstiegen auch diese Runde so lange mitgemacht hat, bis wir gemeinsam die Reißleine gezogen haben. Denn auch das geht mittlerweile: Zweifel äußern, Bedenken anmelden. Dass man sich nicht gut fühlt, ein Hang zu gefährlich aussieht oder ein Grat zu ausgesetzt ist.
Erinnerungen am offenen Feuer
Es sind diese Geschichten, an die wir uns erinnern, während wir so sitzen und nachheizen und essen, aus dem Fenster gucken, ob der Himmel etwas über das Wetter am nächsten Tag erzählt. Gemeinsame Abfahrten.
Wettrennen durch den Bergwald. Die ersten Spuren in den bekannten Varianten neben der Piste, wenn wir es geschafft haben, uns alle am ersten Tag nach dem Schneefall unter der Woche freizunehmen. Aber die besten Tage sind immer, wenn wir irgendwas zum ersten Mal machen und am Ende alles aufgeht. Und man so ein bisschen den Nervenkitzel hat: Ist es sicher? Geht es gut? Findet man den Weg? Und dann verwandelt sich das Nervenflattern am Grat in pure Freude, wenn man unten angekommen ist und man wieder ein Abenteuer glücklich miteinander überlebt hat.
Unser geteiltes Glück ist wie ein Baum. Der Samen wurde irgendwann in unserer Kindheit gepflanzt, von unseren Eltern, die selbst keine großen Alpinisten waren, aber die Begeisterung fürs Draußensein, die Freude an der Natur und der Entdeckung der kleinen und großen Wunder da draußen irgendwie an uns Kinder weitergaben.
Erster! Der Autor versucht, sich bei einer Waldabfahrt abzusetzen. Natürlich ist der brüderliche Kampf um die erste frische Spur nicht ernst gemeint. Also: nicht wirklich ernst.
Und irgendwann in unserer Jugend wurde es zum Selbstläufer, wuchs und trieb aus – weil wir die Möglichkeit und auch die Freiheit hatten, auf eigene Faust in den Schnee zu starten. Heute ernten wir die Früchte, Jahr für Jahr. Ob ihnen etwas auffällt an unserer Rollenverteilung,
frage ich meine Brüder. „Du bist zuständig für die Essensversorgung. Sonst hab ich nicht das Gefühl, dass es eine klare Aufgabenverteilung gibt“, sagt Andi, der Jüngste von uns. „Dass ich meistens mit meinen Brüdern zum Tiefschneefahren gehe, finde ich sogar ein bisschen komisch“, sagt Frank, der Mittlere. Natürlich hat es auch praktische Gründe.
Weil wir das schon so lange zusammen machen, wissen wir, dass wir uns aufeinander verlassen können und als Einheit am Berg funktionieren.„Wir sind ein eingeschworenes Team“, meint auch Frank. „Da gibt es dann auch schon eine nonverbale Kommunikation, das geht dann locker und fluffig den Berg runter, ohne dass man vorher viel besprechen müsste. So kann man an guten Tagen viel mitnehmen.“ Gibt es auch etwas, was euch an unserer Konstellation nervt, frage ich die beiden. „Wir sind alle drei ähnlich gierig nach gutem Schnee“, sagt Frank. „Ab und zu muss man sich ein bisschen zurücknehmen, damit man nicht immer als Erster fährt.“
Darin sind wir mittlerweile ganz gut. Auch wenn wir uns – besonders am Anfang der Saison – noch immer an der Einfahrt in jede unverspurte Rinne aneinander vorbeidrängeln, weil jeder heiß ist auf den Kick, der für den Ersten immer am größten ist. Doch mittlerweile schaffen wir es tatsächlich, dem anderen den Vortritt zu lassen, besonders, wenn man schon eine „First Line“ hatte an dem betreffenden Tag.
Ähnlich wie alte Surfer, die einander ganz gelassen die schönste Welle gewähren. Und es wird mit dem Alter, so hoffe ich, immer besser werden. Morgen werden wir uns auf jeden Fall beim Spuren im Aufstieg abwechseln. Und dann, ganz höflich, der eine dem anderen anbieten, ob er nicht die ersten Kurven setzen möchte in das bananenförmige Couloir, das hinter der Hütte in eine steile Felsflanke geschnitten ist und aus unerklärlichen Gründen tatsächlich noch keine einzige Spur aufweist. Wenn alles gut geht, werden wir uns unten sammeln, einmal die Fäuste aneinanderschlagen. Und gemeinsam nach oben blicken auf die Spuren und uns das Bild einprägen.
Der Mond scheint über denm Floitenkees, während sich ein brüderliches Abenteuer dem Ende zuneigt. Hoffentlich nicht das letzte!
Damit nicht nur Andi, sondern auch Frank und ich eine Erinnerung mehr haben, die uns durch den langen, heißen Sommer trägt, wenn die Tage viel zu hell sind und die klebrige Hitze uns wortkarg macht und in den Schatten treibt.