Von ganz unten
Jeder trägt seine eigene Last: auf den letzten Metern hinauf zur Kaunergrathütte.
Man kann nach unberührten Linien durch die Felswand suchen, Gipfel sammeln oder die Geschwindigkeit erhöhen. Eine einfache Art, die Tiroler Bergwelt auf neuen Wegen zu erleben, gelingt aber über die Rückbesinnung auf eine Zeit, in der keine ausgebauten Straßen und Bergbahnen den Zugang zu den höchsten Spitzen erleichterten. Unser Team startete mit dem Fahrrad im tiefsten Inntal, um die Watzespitze, die höchste Erhebung des Kaunergrats, by fair means zu erklimmen. Was für ein Trip!
Frank liegt auf dem heißen Asphalt und hyperventiliert, ich hänge meinen Kopf unter den Dorfbrunnen von Plangeross und saufe wie eine Kuh, während Jannis hektisch die Öffnungszeiten der Gasthöfe googelt. Die Zeitreserve, die wir für die Tagestour eingeplant hatten, ist bereits nach wenigen Stunden aufgebraucht. Ich schleppe mich vor die Pforte des Kirchenwirts und winke, bis der Wirt sich meiner erbarmt.
Eigentlich ist die Küche um kurz nach drei am Nachmittag dicht. Aber er könne uns schon noch etwas zu essen herrichten. Wo wir denn herkämen? Aus Imst? Mit dem Fahrrad? Wo es hingehen solle? Auf die Watze? Ernsthaft? Und heute noch hinauf zur Kaunergrathütte? Ja und ja und ja. Ob wir mit dem Zug nach Imst gefahren seien? Nein? Und weshalb sind wir nicht mit dem Auto heraufgekommen? So etwas habe er noch nicht gehört. „Warum habt ihr nicht die Luft aus den Reifen gelassen? Dann wäre es noch ein bisschen schwerer!“ Lacht, und holt gespritzten Apfelsaft für alle.
Zwei, drei Stunden durchs Pitztal mit den Rädern, ganz entspannt, so hatten wir uns das vorgestellt, dann eine ausgiebige Mittagspause irgendwo im Schatten. Wenn die größte Hitze vorbei wäre, gemütlich hinauf zur Hütte. Wir wollten schließlich keine Rekorde jagen, sondern den Weg zum Ziel auf neue Art und Weise auskosten. Einmal nicht vom Wanderparkplatz hektisch einen Gipfel stürmen. Sondern bewusst den längeren Weg nehmen – und morgen gut ausgeruht den Ostgrat auf die Watzespitze versuchen.
Es ist unsere Interpretation eines Prinzips, das in den Bergen lange aus der Mode gekommen war, zugunsten schneller Halbtagestouren. In letzter Zeit hört man es unter Bergsteigern aber wieder öfter: dass sie einen Berg „by fair means“ gemacht hätten. „Für mich bedeutet ,by fair means‘ vom letzten Ort der Zivilisation aus eigener Kraft in eine Bergregion zu kommen“, schreibt der Extrembergsteiger Robert Jasper. Der Vorreiter der Bewegung ist Kletterlegende Stefan Glowacz, der seit einem Vierteljahrhundert Segelboote und Kiteschlitten einsetzt, um auf ,faire‘ Art zu einem Berg in Nordwestkanada oder Grönland zu kommen. Uns geht es nicht um puristische Erstbesteigungen in entlegenen Gebieten. Wir wollen dem Naheliegenden eine neue Qualität abgewinnen.
meinTirol-Magazin
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Die ersten Kehren hinauf vom Kreisverkehr im Inntal nehmen wir voller Energie, dann zweigt auch schon die Pitztal-Bikeroute von der Straße ab. Wenn schon den ganzen Weg, dann auch den schönsten. Jannis und ich fahren Mountainbikes, Frank ein Gravelbike mit Gepäckträgern, um die Kletterausrüstung zu verstauen. Bald hören wir nichts mehr von der Hauptstraße, auf gut fahrbarem Schotter führt der Weg auf die Sonnenterrassen südlich von Wenns, durch kleine Dörfer, vorbei an Familien, die die Wiesen im heißen Sommerwind mähen. Bald tauschen Frank und Jannis die Räder, Jannis hat einfach mehr Kraft, um das Gepäckrad die Steigungen hinaufzutreten.
Der letzte Ort der Zivilisation? Start in Imst, auf der Nordseite des Inns.
Sommertraum mit warmem Fahrtwind: auf den Sonnenterrassen bei Wenns im unteren Pitztal.
Nach einem Drittel der Fahrradstrecke wird das Tal enger, führt uns der Trail wieder hinunter zum Fluss. Der Weg ist geschickt angelegt, die rauschende Pitze trennt uns von der Bundesstraße. Immer wieder ist ein kurzer Gegenanstieg zu bewältigen, dann rollt man ein paar hundert Meter bergab. Es geht über Brücken und durch eine feuchte Klamm, das ganze Spektakel eines uralten, tiefen Gletschertals durchfahren wir – und machen dabei kontinuierlich Höhe. Nach dem zweiten Drittel wird es, mit dem Gepäck auf den Rädern und den Rucksäcken auf dem Buckel, langsam zäh. Die Mittagssonne ballert, die Bäume hier oben spenden nicht mehr so viel Schatten. Auf einer langen Geraden überholt uns ein Bergläufer. Teile unseres Weges teilen wir uns mit der Strecke des Pitztal Glacier Trails, 106 Kilometer und 6.100 Höhenmeter, der an diesem Wochenende stattfindet. Die ausgezehrten Konditionsungeheuer, die an uns vorbeiziehen, sind seit elf Uhr am Vorabend unterwegs. Wir machen kurz vor dem ersten Zwischenziel noch mal Halt und kühlen unsere pochenden Körper im Gletscherwasser der Pitze.
Gleich geht es weiter bergauf auf dem langen Weg nach Plangeross.
Jannis beim Abkühlen in der Pitze in bester Gesellschaft.
Die Anreise als Abenteuer, das haben wir bereits in Plangeross geschafft. Wenn man es entspannt angehen würde, würde man sich jetzt beim Kirchenwirt einquartieren und am nächsten Morgen auf die Hütte marschieren. Doch wir werden oben erwartet, und das Wetter für morgen ist prächtig angesagt, also trinken und essen wir (ganz ausgezeichnet übrigens), parken die Bikes in der Garage, verteilen die Lasten aus den Fahrradtaschen auf die Rucksäcke und machen uns an den Aufstieg durch den steilen Bergwald.
In wilden Kaskaden springt der Bach, der von den Gletschern unterhalb der Watzespitze gespeist wird, über Felsabbrüche und verschwindet gurgelnd in unsichtbaren Löchern. Die 1.200 Höhenmeter zur Kaunergrathütte kommen uns mit den fünf Stunden Tretarbeit in den Oberschenkeln vor wie eine harte Etappe zu einem Hochlager im Himalaja. Als der Bergwald niedrigen Latschen weicht, die Luft endlich kühler wird, sagt Frank: „Gerade kann ich mir zum ersten Mal vorstellen, dass wir es tatsächlich bis zur Hütte schaffen.“ Mir geht es nicht viel besser. Obwohl ich früher viel mit dem Bike unterwegs war, habe ich das zugunsten der Kletterei in den letzten Jahren vernachlässigt – mein Knie scheint mir das lange Bergaufradeln übel zu nehmen. Schon auf den letzten Fahrradkilometern spürte ich ein Zwicken. Jetzt fühlt es sich bei jedem Schritt an, als würde sich ein Metallband um mein Knie immer weiter zuziehen.
Auf dem Anstieg zur Kaunergrathütte geht es durch alle alpinen Vegetationszonen.
Nach der zweiten oder dritten Kuppe – genau kann ich es nicht sagen, ich setze mit Tunnelblick stumpf einen Fuß vor den anderen – verdunkelt ein Doppelgipfel den Horizont, schwarz im Gegenlicht, mit scharfem Grat und Hängegletscher, beeindruckend, abweisend und lockend zugleich. Mit ihren 3.532 Metern Höhe ist die Watzespitze die höchste Erhebung des Kaunergrates. Und eine besonders stolze.
Der Doppelgipfel der Watzespitze. Der Ostgrat verläuft durch den dunkelsten Bildteil.
Knapp eine Stunde später hängen wir in den Liegestühlen auf der Terrasse der Kaunergrathütte und lassen Tag eins des Unternehmens vorüberziehen. Man rückt einen Berg in eine neue Dimension, wenn man nicht nur seine Spitze besteigt. Da wird aus einem Ostalpen-Dreitausender ein anderes Unterfangen, eine kleine Expedition. Natürlich erschwert man sich den Weg mehr als nötig. Aber was ist schon nötig? Auf Berge zu steigen? Seitdem die höchsten Gipfel „erobert“ sind, ist alles Wiederholung, in den Alpen sowieso, ist jede Nordwand „künstliche“ Erschwerung.
„Als ich kein Auto hatte, fand ich es ganz normal, von Innsbruck mit dem Rad zu starten“, erinnert sich Jannis an seine Studentenzeit. „Das waren die Touren, die ich nie vergessen werde. Danach ist man noch ein Stück stolzer und zufriedener.“ Wir sitzen mit Sigmund Dobler zusammen, dem Vater des Hüttenwirts. In seinen jungen Jahren, erzählt er, war es üblich, mit dem Fahrrad am Morgen in Wenns zu starten und dann nach Plangeross zu radeln, um noch am selben Tag auf die Watzespitze zu klettern.
Bergsteigerunterkunft mit bester Küche: die Kaunergrathütte auf 2.817 Metern Höhe.
Die Kaunergrathütte am Fuß der Watzespitze.
Um fünf Uhr morgens stehen die Ostgrat-Aspiranten auf. Freie Kletterei über 700 Höhenmeter, in den Ostalpen kann man lange nach vergleichbaren Anstiegen suchen. Es ist der Königsweg auf die Watzespitze, eine klassische Bergsteigerei, nicht Wandern, nicht Sportklettern, irgendwie oldschool und gerade deshalb erfrischend neu. Wir lassen einem Dutzend Ostgrat-Anwärtern den Vortritt – wir haben es nicht eilig, außerdem werden wir den „alten Einstieg“ wählen und die drei neuen Seillängen unten am Pfeiler auslassen, historisch treu und ein bisschen flotter. Als wir um kurz vor sechs unsere müden Mägen mit Müsli füllen, ist es in der Hütte leer. Sigmund macht Druck, los jetzt, ihr seid spät dran.
Gestern konnte ich nach dem Aufstieg mein Knie kaum noch bewegen. Ich dachte, über Nacht würde es sich beruhigen, aber auf dem Abstieg von der Hütte hinüber zur Wand und in der Querung durch den angefrorenen Schnee tut es richtig weh. Aua, das wird heikel. Bevor ich das Unternehmen abblasen kann, stehen wir am Wandfuß. Die Seile bleiben im Rucksack, aber wir haben die Gurte an, können also jederzeit in den Sicherungsmodus umschalten.
Der Einstieg in die Mauer führt über eine steile Verschneidung. Während Jannis als regelmäßiger Bergradler mit dem gestrigen Tag überhaupt keine Probleme hatte, beginnt für ihn hier wirkliches Neuland. Er ist noch nie so hoch und auch so schwierig geklettert. Für Frank und mich war das Paket aus Strecke und Höhenmetern gestern ein Kraftakt, die Kletterschwierigkeit heute und auch die Länge der Tour sollte an sich kein Problem darstellen – wenn es „normale“ Kletterei wäre. Aber als Sportkletterer sind wir Klettern im Seilmodus gewohnt – und nicht Hunderte ungesicherte Höhenmeter. „Das Problem am Ostgrat ist sicher nicht die eine Viererstelle. Es ist einfach eine hochalpine Tour, die Ausgesetztheit und die Routenfindung sind die Schwierigkeit“, hat Sigmund gestern erklärt. Kein Zufall, dass Schweizer Bergführer mit ihren Gästen hier gerne auf Probetour gehen. Wer es auf die Watzespitze schafft, hat in aller Regel auch am Matterhorn keine Probleme – außer vielleicht mit dem Stau am Hörnligrat, es sind zehnmal so viele Bergsteiger pro Jahr am Matterhorn wie auf der Watze.
Beherzt zupacken, die ersten Meter Höhe gewinnen. Dann wird es auch schon weniger steil. Ich habe mittlerweile vergessen, dass ich eigentlich Schmerzen habe. Das ist ein Vorteil bei unserem interdisziplinären Projekt: Die Belastung mag insgesamt groß sein, ist aber eben heute eine ganz andere. Ich habe nur Angst vor dem Abklettern. Wenn das Knie sich da wieder meldet, wird es wackelig. Der Quergang hinüber Richtung Grat ist kurz knifflig. Jannis ist etwas blass, aber das ist auch wirklich kein Wunder. Wir bewegen uns in einem Gelände, wo ein Sturz ernsthafte Folgen hätte. Dann geht es bergauf in Richtung des riesigen roten Pfeils, der den Kletterern an einer entscheidenden Stelle den Weg weist und der von der Hütte so winzig aussah.
Das Ziel im Blick, der Weg noch weit: Verschneidung am „alten Einstieg“ zum Ostgrat.
An der ersten Dreierstelle – oder ist es der Vierer? – stauen sich Seilschaften. Wir haben jetzt Oberwasser, drücken uns vorbei und klettern das kurze Stück ohne Seil. Drei Seilschaften haben wir schon überholt. Als es das nächste Mal richtig steil wird, binde ich mich ein. Plötzlich echtes Klettergefühl, aber eben ohne jeden Bohrhaken, da geht mir die gewonnene Eleganz kurz flöten. Anstatt auf Reibung anzusteigen und die andere Fußspitze auf den nächsten Absatz zu platzieren, wuchte ich mein Knie über die Kante und verklemme mich mit dem Rücken, während ich eine Bandschlinge zur Sicherung über eine enge Felsschuppe zu legen versuche.
Die Kletterei auf dem eigentlichen Grat ist großartig, aber ich weiß aus Erfahrung, dass diese Art von Gelände bergab unangenehmer ist. Um Viertel nach elf, nach drei Stunden, sind wir am Gipfelkreuz. Hammerblick. Konzentrierte Brotzeit, die Gedanken gehen immer wieder nach innen. Die übliche Gipfelerleichterung setzt nicht ein, jetzt müssen wir alles wieder abklettern. Und der verschärfte Gesamtmodus hat von allen Tribut gefordert. Kurze Nacht, schwere Beine, selbst Fitnessmonster Jannis fällt am Gipfel in eine Art Wachdelirium.
Es ist ein Kreuz mit dem Gipfel … einmal oben, muss man schon wieder hinunter. Und zwar zügig!
Wir geben uns einen Ruck. Ich bin fast aufgeregter als am Wandfuß. Erste Überraschung: Das Problem in meinem Knie scheint sich gelöst zu haben. Es fühlt sich normal an. Und nach den ersten hundert Metern hat man sich auch an den Blick in den Abgrund gewöhnt, der grundsätzlich schwindelerregender ist, wenn man sich ihm entgegenbewegt. Aber dann stellt man eben doch auf den nächsten Schritt, den nächsten Griff scharf – und wie bei einer Kamera verschwimmt die Tiefe zu einem unscharfen Hintergrund. Zweite Überraschung: Plötzlich macht mir Abklettern richtig Spaß.
Über einer Kante, die wir im Aufstieg seilfrei überklettert hatten, richten wir die erste Abseilstelle ein. Jannis’ Abseiltaufe. Hätten wir gestern Abend an der Hütte doch einmal üben sollen. Egal. Es klappt. Während Jannis über die Kante verschwindet, schaue ich hinüber auf den Gletscher. Alle zehn Minuten feuert ein Steinschlag durch die Eisrinne. Der Horizont ist der Tiroler Alpenhauptkamm. So eine wilde Bergwelt! Grate und Abenteuer für mehrere Leben.
Blick in den Abgrund: Abstieg über den Ostgrat der Watzespitze.
Jannis bei der Abseiltaufe.
Am großen Steinmann geht es links in den Schatten. Und mit dem Lichtwechsel wird die Stimmung grimmiger. Auf einmal fühlen sich die Griffe brüchiger an, die Tritte bröseliger. Sicherheit gibt das Seil im Rucksack, das wir noch zwei- oder dreimal auspacken. Dann sind wir tatsächlich aus der Wand raus. Dieses irre gute Gefühl, wieder in der Waagerechten zu sein.
Übermütig fahre ich das Schneefeld wie auf Skiern hinunter, fast überschlage ich mich noch. Dann sind wir für die letzte Stunde auf der Sonnenterrasse zurück. Bier. Schnaps vom Hüttenwirt. Noch ein Bier. Hat man all diese Strapazen nicht genau für diesen Moment auf sich genommen? Mehr Mühe, mehr Seligkeit. Mehr Angst, mehr Erleichterung. Glück, hat einmal ein kluger Mensch gesagt, ist ein Kontrasterlebnis.
„Intensiver kann man einen Berg nicht erfahren“, bilanziert Jannis. Wir sind alle erledigt, nach diesem hochkonzentrierten Tag vor allem im Kopf – und euphorisch, weil es tatsächlich geklappt hat. Und weil jetzt wirklich Entspannung angesagt ist, checken wir noch mal für eine Nacht in der Hütte ein. Nach dem Abstieg morgen werden die Beine brennen, aber die Seele wird fliegen. Und wie ein Flug wird sich auch die lange Abfahrt anfühlen, vom Hochtal durch den Bergwald bis zu den Sommerwiesen am Inn.
Bike & Hike
Ob Genießer oder Konditionsmonster, unsere Autoren haben Bike-& Hike-Touren für rundum ausgefüllte Tage in den Tiroler Bergen gefunden.