Slow Shoeing
Eine Schneeschuhwanderung durch die verschneiten Berge Osttirols ist auch ohne Adrenalinausschüttung und Trainingseffekt unvergesslich – weil man plötzlich ganz neue Dinge und Wunder wahrnimmt. Denn das Tempo bestimmt, was wir sehen und was nicht.
Whiteout: Wenn die Sonne hinter Wolken verschwindet, verliert die Landschaft ihre Zeichnung.
Über den Lienzer Dolomiten liegt ein Federbett aus Wolken. Weich und flauschig sehen sie von meinem Sitzplatz vor der Haustüre aus. Ich lasse mir beim Anlegen der Schneeschuhe viel Zeit und freue mich, dass wir direkt von unserer Unterkunft losmarschieren können. Wirklich eine Spitzenidee, genau da zu logieren, wo man nur noch zu Fuß weiterkommt.
Zwischen dem Haupthaus, dem Stallgebäude und der Barockkapelle hat Tobi die Wege freigeschaufelt. Tobi ist unser Wirt. Der 28-Jährige kümmert sich um den Kollreider Hof, ein jahrhundertealtes Anwesen, auf dem heute ein Gästehaus und eine Biolandwirtschaft betrieben werden. Der entlegene Gutshof über dem Pustertal, auf Osttirols Boden, ist ein idealer Stützpunkt für Menschen wie uns. Menschen, die die tief verschneite Berglandschaft neu erleben wollen.
Jetzt noch die Trinkflaschen füllen, dann kann es losgehen. Aus dem Brunnen gluckert Wasser, dann versiegt es, um wenig später in ruckartigen Schüben wieder ausgespuckt zu werden. „Klingt wie eine ayurvedische Reinigungskur“, sage ich zu Pete, dem Fotografen. „Klingt, als wäre Obstler in deinem Müsli gewesen“, antwortet er. Wir setzen die Rucksäcke auf und lassen uns von Tobi zeigen, wo es zum Spielbichl geht. Den Lawinenlagebericht haben wir auch zur Kenntnis genommen – passt.
meinTirol-Magazin
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Bei einer Schneeschuhwanderung sinkt man trotz Schneeschuh ein. Bei jedem Schritt. Jetzt, am Morgen, wenn der Schnee noch kalt und fest ist, sind es nur gut 20 Zentimeter. Aber doch genug, um kräftig eingebremst zu werden. „So einfach kann Entschleunigung sein“, sage ich und lege nach fünf Minuten Gehzeit die erste Trinkpause ein. Als ich zurückblicke, fällt mir das Muster auf, das die Spitzen unserer Stöcke in den Schnee gepikst haben. Die Löcher schimmern wie winzige Gletscherspalten. Schön schaut das aus.
Hoch über dem Pustertal erheben sich die Villgratner Berge.
Weißer Hindernisparcours: Umgestürzte Bäume können unser Reporterteam nicht aufhalten.
Das Tempo bestimmt die Wahrnehmung
Ganz allmählich steigt die Forststraße zur Ascher Alm hinauf. Forststraße? Viel ist von ihr nicht zu sehen. Ganz Osttirol liegt unter meterhohem Schnee. Die Kronen der Fichten tragen hohe Mützen. Nur die Skispuren, die Tobi am Vortag gezogen hat, weisen uns den Weg.
Das Tempo bestimmt, was wir sehen und was nicht. Ein guter Bekannter, der englische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Robert MacFarlane, hat mir das auf gemeinsamen Touren vor Augen geführt. Rob, ein ausgezeichneter Alpinist und Sportler, hat zahlreiche Bücher über das Gehen, Wandern und Bergsteigen geschrieben. Sich einzubremsen, gehört für ihn zu den wichtigsten Disziplinen des Naturerlebens. Wie recht er doch hat, denke ich. Auch wenn man sich als fitter Mensch oft geradezu zwingen muss, das Tempo zu drosseln.
Mit den Schneeschuhen sind Pete und ich automatisch langsam genug, um die kleinen Dinge wahrzunehmen. Blassgrüne Flechten, die der Wind von den Ästen gerissen hat und die jetzt wie filigrane Schmuckstücke auf der glitzernden Oberfläche liegen. Schuppen aus Eis, die einen Felsen ummanteln, als wollten sie ihn beschützen. Die hellen Bruchstellen der von der Schneelast gefällten Bäume. Immer wieder müssen wir unter umgeknickten Bäumen hindurchkriechen. Dann riecht es intensiv nach Harz und Fichtennadeln.
Nur das kratzende Geräusch unserer eigenen Schritte ist zu hören. Sobald wir anhalten, hüllt die Stille uns ein wie eine dicke Wolldecke. Der Winter verändert die ganze Welt: Geräusche werden gedämpft. Unter weichen Kuppen verschwinden die scharfen Ecken und Kanten. Die Farben ziehen sich zurück, nur um dann an wenigen Stellen besonders intensiv zu leuchten.
„Wahnsinn, wie viel Schnee die hier haben“, bemerkt Pete zum geschätzt fünften Mal. „BERGEweise!“, entgegne ich und lache.
Zuckerguss: Wie eine Tortenschicht liegt der Schnee auf einem Hüttendach.
Unter den Schneemassen verschwinden Sommer- Wegweiser und Markierungen.
Bloß keine Ambitionen
Nach eineinhalb Stunden erreichen wir eine Freifläche. Als einziger Fleck steht eine Hütte mitten im Weiß. Das schlichte Gebäude zieht uns magisch an. Zumal eine Spur genau in seine Richtung führt. Das Tier, vermutlich ein Reh, ist tief eingesunken. Zum Glück haben wir unsere Plastikflossen an den Füßen, sonst würden auch wir bis zur Hüfte einbrechen.
Wir lehnen die Rucksäcke an den Heuschober und legen eine Schicht Kleidung ab. Die Wolken haben sich verzogen, der Himmel erstrahlt in Schlumpfblau. Alle paar Sekunden löst sich ein Tropfen Tauwasser vom Dach. Verstohlen streichle ich das Altholz und atme seinen teerigen Geruch tief ein. Die Bank schimmert wie das Fell eines alten Dackels: schwarz, silbern, braun. Der Bauer hat die Balken mit römischen Ziffern gekennzeichnet, was sie noch archaischer aussehen lässt.
Plötzlich eine Stimme. Hundebellen. Tobi, unser Wirt, winkt vom Weg herüber. Mindestens zweimal die Woche stapft er mit den Skiern und seinem Vierbeiner auf den 2.072 Meter hohen Hausberg. „Krass, wie fit der ist“, sagt Pete, und sofort spüren wir das leise Zwicken, das der sportliche Ehrgeiz in einem auslöst. „Nichts da“, sage ich. Wir hatten uns explizit vorgenommen: Bloß kein Training! Eine Tour ohne sportliche Ambitionen, ohne Adrenalin, ohne Eile.
Also schrauben wir die Thermoskanne auf und lassen Tobi von dannen ziehen. Er wird der einzige Mensch bleiben, dem wir auf unserer Tour begegnen. Es ist einsam in den Villgratner Bergen. Wir hören die Vögel zwitschern und trillern. Und wieder muss ich an Rob MacFarlane denken. Als gewiefter Naturkundler kann er jeden Piepmatz auf Anhieb identifizieren. Wie schön das jetzt wäre. Die einzelnen Stimmen der, sagen wir einmal, Birkenzeisige, Zaunkönige und Tannenhäher voneinander unterscheiden zu können.
Für uns bleibt das Tirilieren eine schöne Hintergrundmelodie auf unserem langsamen Marsch. Weiter geht es über Almwiesen. Zumindest theoretisch. Tatsächlich liegt zwischen uns und dem Erdboden eine fast zwei Meter tiefe Schicht aus Schnee- und Eiskristallen. Hie und da ragt ein Pfahl durch die Schneedecke, ein Stück Zaun wird hinter einer Verwehung sichtbar, ein Teich richtet sein grünes Auge in den Himmel. Ein unsichtbarer Bach gurgelt irgendwo unter unseren Füßen. Man kann ihn und seine Verästelungen unter der weißen Verpackung nur erahnen. Ein bisschen unheimlich ist das. „Hoffentlich brechen wir nicht ein“, sagt Pete. Angestrengt horche ich in den Schnee. Etwas oberhalb der Ascher Alm erreichen wir nach drei gemächlichen Stunden den Sattel, den wir überschreiten wollen, um den Gipfel des Spielbichl zu umrunden. „Gipfel?“, hatte Tobi sich gewundert: „Das ist doch bloß eine glatzköpfige Kuppe.“ Also stapfen wir die letzten hundert Höhenmeter hinauf auf den flachen Kahlkopf. Natürlich passiert, was passieren muss, wenn man ganz oben steht: Die Weitsicht fordert ihren Tribut. Angesichts der Zacken, Zähne und Spitzen, die sich in allen Himmelsrichtungen aufreihen, verlieren die subtilen Nebensächlichkeiten ihren Reiz. Das Panorama betäubt unsere Empfänglichkeit für das Kleine und Flüchtige. Steigen wir also schleunigst wieder ab. Schließlich wollten wir uns den oft übersehenen Details widmen. Den Hunderten von Zapfen, die auf den Ästen der Lärchen sitzen. Dem Geruch des Heus, das der Wind aus einem entfernten Schober zu uns trägt, den Abdrücken von Hasen- und Fuchspfoten, den Kötteln der Gämsen. „Jetzt übertreibst du aber“, sagt Pete, „das fotografiere ich nicht.“
Jetzt nur nicht die Balance verlieren: Unser Autor entdeckt beim Aufstieg einen Teich.
Kühle Erfrischung: Schneeschuhwandern ist oft anstrengender, als es aussieht.
Ohne Spuren
Zurück auf dem Sattel stehen wir vor einer neuen Herausforderung: Auf der Ostseite des Berges, die wir hinabgehen wollen, sind keine Skispuren mehr zu sehen. Abfahrten gibt es nur im Süden und Westen des Berges. Unsere Route ist auf der Schattenseite des Spielbichl nicht mehr eindeutig zu erkennen. Wir müssen den Weg selbst suchen und spuren. Von nun an sinken wir tiefer in den Schnee ein. „Jetzt wird es doch noch sportlich“, frotzelt Pete. Aber schon bald finden wir unseren Rhythmus. Ein gelber Sommer-Wegweiser taucht unter Eis und Schnee auf. Man kann nur die Hälfte lesen, aber so viel ist erkennbar: Wir sind richtig.
Und dann sehen wir zum ersten Mal die Schneeschnecken, die sich spontan den Hang hinuntergerollt haben. Mal sind sie groß wie Langspielplatten, mal haben sie den Umfang eines Mühlrades. Die Scheiben schimmern in den schönsten Blautönen. Jede ein bisschen anders. Ob sie uns bei höherem Schritttempo überhaupt aufgefallen wären?
Die Erfindung des Rades? Schneeschnecken, die sich ohne Fremdeinwirkung gebildet haben.
Spuren im Schnee: Echte Einsamkeit: ein Glücksfall, wenn vor einem nur Tiere unterwegs waren.
Obwohl wir uns bewegen, wird uns kalt. Die Sonne ist lange verschwunden. Die Landschaft dämmert in milchigem Schwarz-Weiß. Wir sind seit sieben Stunden unterwegs. Das Trödeln hat tadellos geklappt. Inzwischen ist es für eine weitere Detailsuche zu dunkel. Es wird Zeit, dass wir zurück zum Kollreider Hof kommen. Als wir gegen 18 Uhr am Ziel sind, geht gerade die Beleuchtung der Kapelle an. Der Brunnen spuckt unermüdlich sein Wasser in den Trog.
„Ihr habt euch wirklich Zeit gelassen“, sagt Tobi, der seit Stunden zurück ist. „Und ob“, entgegne ich und lege einen Anzünder unter die Scheite, höre Pete die ersten Bierflaschen öffnen und freue mich auf das Knistern des Feuers.