Fliegen oder liegen?
Fotos: Gerald von Foris
Unser Autor versuchte im Winter 2018, die nordische Kombination zu lernen: Ohne bisher irgendeine Erfahrung in diesen Sportarten zu haben. Für diese Premiere reiste er nach Tirol. Er lernte, wie man die Schwerkraft und die Trägheit der eigenen Seele besiegt. Und kam als glücklicher Mensch zurück.
Kurz vor meinem allerersten Sprung, kurz bevor ich mich hinunterstürze in einen Abgrund aus Eis und Angst, erhalte ich eine beunruhigende Information. Der Mann, der mir in der vergangenen Stunde das Skispringen erklärte, hat diesen Sport selbst noch nie ausgeübt. Ich hatte meinen Coach Karl Heinz Eder, 45, Chef der Skisprungschule Wörgler Flughunde, gefragt, wie denn eigentlich sein erstes Mal war. „Es gab gar keins“, antwortete Eder, „ich bin hier nur dazu gekommen, weil das meine Kinder ausprobieren wollten. Für mich ist das nichts.“ Mit diesen Worten lässt mich Eder alleine auf dem Eisenbalken der 30-Meter-Schanze sitzen und steigt die schmale Treppe hinab.
Ich blicke ihm nach. Ich blicke auf meine Skier. Ich blicke vorbei an den Skispitzen auf die zwei Spuren der Schanze, die steil nach unten zeigen, ehe sie im Nirgendwo verschwinden. Ich sehe auf den letzten Rest des schneebedeckten Sprunghügels. Genau genommen handelt es sich dabei gar nicht um Schnee, sondern lose miteinander verbundene Eisbrocken. Ich blicke auf die Ziegeldächer von Wörgl, in die rauchenden Schornsteine. Wie gerne wäre ich jetzt dort unten.
Bei dieser Übung springen Skiflugprofis aus dem Stand in die Arme des Trainers, die dieser über den Kopf ausstreckt. Unser Autor muss noch üben.
„Was geht jetzt in deinem Kopf vor?“, will Eder wissen. Weil er mittlerweile dreißig Stufen weiter unten steht, muss er die Frage brüllen. Das lässt sie gleich etwas weniger einfühlsam klingen. „WAS GEHT JETZT IN DEINEM KOPF VOR?“ Das Echo hallt in meinem Schädel. Panikschübe, Gefühlsblitze, Gedankenfetzen. Hat Eder recht, nie gesprungen zu sein? Und warum will er dann, dass ich das tue? Und warum ist er sogar Chef einer Sprungschule? Werde ich mir das Kreuzband reißen? Die Nase oder die Wirbelsäule brechen? Und wie bin ich überhaupt in diese Situation gekommen? WAS GING IN MEINEM KOPF VOR?
Werde ich mir die Nase brechen? Oder die Wirbelsäule?
Auf die letzten Fragen weiß ich eigentlich die Antwort. Ich war schon als kleines Kind sportbegeistert. Fast besser als selbst Sport zu treiben fand ich es, anderen dabei zuzusehen. Und zu meinen größten Helden zählten die nordischen Kombinierer. Bleiche, wortkarge Männer, die sich nicht damit zufriedengaben, in eng anliegenden Raumschiff- Enterprise-Anzügen Berge hinunterzusegeln. Sondern die sich danach noch in eine Loipe stürzten, um sich die Lunge aus dem Leib zu kotzen. Mir gefiel dieser Exzess des Ehrgeizes. In der nordischen Kombination werden nicht nur Skispringen und Skilanglauf kombiniert. Sondern auch die Lust an der Angst und die Lust an der Qual. Eine extremere Belastung für Geist und Körper kann man sich eigentlich kaum vorstellen. Im Alter von vierzig Jahren schien mir endlich der Zeitpunkt gekommen, diesen Traum oder Albtraum für mich wahr werden zu lassen. Einen Tag gab ich mir, um Skispringen und Skilanglauf zu lernen. Beides hatte ich noch nie zuvor gemacht. Und Tirol schien ein guter Ort zu sein, immerhin finden hier die Nordischen Skiweltmeisterschaften 2019 statt. Mich reizte das Abenteuer. Eine Flucht aus unserer Wattewelt, in der wir uns mit Dreipunktgurten, Sofalandschaften und ergonomischen Mousepads eingerichtet haben.
Die Bilder im Vereinsheim beweisen: Bei den Flughunden kann auch im Sommer gesprungen werden.
Meine Heldenstimmung verfliegt spätestens am Morgen meines Tiroltrips. Ich erwache, ohne wirklich geschlafen zu haben, kein gutes Gefühl. Im Auto hoffe ich auf eine Panne oder einen Wettersturz, aber nichts passiert. Und als ich an der Skisprunganlage Wörgl aus dem Auto steige, steht die Sonne ungerührt am Himmel. Es war gar nicht so einfach, einen Skiclub zu finden, wo sich ein Anfänger wie ich mal ausprobieren kann. Ich habe lange herumtelefoniert. Nur die Wörgler Flughunde haben mich akzeptiert. Ich blicke nach oben, zu den drei Sprungschanzen. Es sieht so aus, als würde mir der Berg drei Mal die Zunge herausstrecken.
Karl Heinz Eder klopft mir zur Begrüßung auf die Schulter. Ein bisschen fühlt sich das schon an wie ein Belastungstest: Bin ich hart genug? Offenbar ja. Das Training beginnt. Am Anfang fahre ich nur direkt unterhalb des Schanzentisches den Auslauf hinunter, um ein Gespür für die Skier und den Hang zu bekommen. Dann Abfahrtshocke: Knie tief gebeugt, Rücken gerade, Blick nach vorne. Sprungtraining. Über den ganzen Fuß abspringen, nicht nur über die Ballen. Den Oberkörper nach vorne legen. Die Fußspitzen anziehen, damit die Skier nach oben zeigen. Irgendwie scheint alles, was Eder sagt, das Einzige zu sein, was ich mir merken muss. Bevor es dann wirklich losgeht, muss ich noch unterschreiben, dass ich im Fall von Verletzung oder Tod die Wörgler Flughunde von jeder Haftung ausschließe. Ich verstehe schon, warum das für Eder wichtig ist. Aber direkt ruhiger macht mich der Vertrag auch nicht. „Wenn du einmal auf der Schanze bist, kannst du nicht mehr anhalten, du kommst ja mit den Skiern nicht aus der Spur“, sagt Karl Heinz Eder. „Dann gibt es kein Bremsen. Dann musst du die Kontrolllosigkeit kontrollieren.“
Unser Autor besteigt die Schanze. Es fühlt sich für ihn eher an wie der Gang aufs Schafott.
Das ist irritierend für einen sicherheitsbewussten Menschen wie mich, der jeden Morgen zwei Mal checkt, ob der Herd auch ausgeschaltet ist, und jede E-Mail einem Kollegen zum Gegenlesen gibt, damit kein Kommafehler drin ist. Noch auf dem Balken überlege ich, dass ich ja auch einfach aufgeben könnte. Aber ich weiß gar nicht, ob ich es unfallfrei schaffe, die unendlich langen Skienden hinter dem Balken wieder herauszufädeln und auf die Treppe neben mich zu stellen. Außerdem will ich mich nicht vor Eder lächerlich machen. Was ist größer, die Angst vor dem Sprung oder die Angst vor der Blamage? Und warum bin ich überhaupt so ängstlich? Was soll eigentlich überhaupt diese Panik? Muss man sich denn von sich selbst wirklich alles gefallen lassen?
Es kracht und knirscht? Ist es das Eis? Oder sind es meine Knochen?
Ohne dass ich es in meinem Kopf wirklich entschieden hätte, lösen sich meine Hände vom Balken, ich gehe in die Hocke, fahre in die Spur hinunter. Oh, oh Gott, oh Gott ist das steil. Ich werde schneller, immer schneller. Das ist sie, die Kontrolllosigkeit, aber ich habe keine Ahnung, wie ich sie kontrollieren könnte. In meinem Kopf tost es, oder sind das die Skier in der Spur? Ich rase, nein, ich werde gerast, plötzlich zieht irgendwer die Schanze weg. Ich bin in der Luft, aber dann lande ich schon wieder auf dem Boden, es kracht und knirscht (das Eis? Meine Knochen?) ich fahre den Absprunghügel hinunter, komme irgendwo zum Stehen, wo der Schnee in eine grüne Wiese übergeht. Ich war nur für Sekundenbruchteile in der Luft. Und muss minutenlang grinsen. Ein wenig kann ich den Traum vom Fliegen jetzt schon verstehen.
Gehupft wie gesprungen. Wirklich hoch ist unser Autor noch nicht in der Luft. Aber für ihn fühlte es sich ziemlich dramatisch an.
Es ist ein alter Traum. Der Norweger Sondre Norheim, ein Pionier des Skisports, der auch die erste Skibindung baute, sprang schon im Jahr 1860 über eine Felsbrockenschanze 30,5 Meter weit. Erste Skisprungwettbewerbe, veranstaltet vom norwegischen König, gab es im Land schon ab den 1870er- Jahren. Das erste Skispringen außerhalb Norwegens fand im österreichischen Mürzzuschlag am 2. Februar 1891 statt, wo von einem verschneiten Misthaufen gesprungen wurde. Heute stehen alleine in Tirol 20 Sprungschanzen. Steil recken sie sich in die Luft, sichtbar von weit her. Denkmäler des menschlichen Wagemuts.
Irgendwann im Lauf des Vormittags auf der Anlage der Wörgler Flughunde beginnt das Skispringen mir Spaß zu machen. Aber immer stimmt ein Detail nicht. Ich springe zu früh ab. Ich springe zu spät ab. Ich springe gar nicht ab. Ich schaffe es nicht, die Skier waagrecht in der Luft zu halten. Vor meinem zehnten und letzten Sprung, warte ich besonders lange auf dem Balken. Ich versuche, an alles zu denken, was ich bisher gelernt habe. Als ich diesmal auf den Schanzentisch zurase, spüre ich keine Angst, sondern eher eine Angstlust, ich springe ab und lasse den Oberkörper nach vorne schnellen, irgendetwas reißt mich nach oben in die Luft. Das ist hoch, das ist wirklich hoch. Ich rudere mit den Armen, und gerade als ich zu schreien beginnen will, berühren meine Skier wieder den Boden. Vor lauter Schreck gerate ich in Rücklage, stürze, rutsche auf dem Rücken den ganzen Hang hinunter und in einen Kunststoffzaun hinein, der mich schließlich stoppt. Mein Sprung kam mir wie 20 Meter vor, es waren tatsächlich aber wohl nur 8,50 Meter, sagt Karl Heinz Eder. Aber das macht nichts. Die Gewissheit, eine Gefahr überstanden zu haben, legt sich um mich wie eine federleichte, glänzende Rüstung. Ich fühle mich stark und unverwundbar und falle meinem nicht Ski springenden Skisprunglehrer zum Abschied um den Hals. Fast tut er mit leid, dass er selbst noch nie gesprungen ist (die Gründe dafür mag er mir übrigens nicht verraten, vielleicht hat er sich zu alt gefühlt, als ihn seine Kinder zu den Flughunden brachten, vielleicht hat er auch wirklich Angst). Mir tun überhaupt alle Menschen leid, die noch nie Ski gesprungen sind. Und ich würde am liebsten gleich weitermachen.
Pausen zwischen den Sprüngen sind wichtig: um die Konzentration hoch zu halten.
Aber ich muss ja weiter, eine Stunde Autofahrt nach Seefeld, Gastgeber der Nordischen Ski- WM 2019. 34 Lifte und Bergbahnen, 44,5 Kilometer Loipen, 1.114.937 Übernachtungen, eine Kleinstadt. Mitten in dieser Welt aus Skitouristen, die in ihren Skischuhen herumlaufen als trügen sie Betonklötze an den Füßen, inmitten der Trachtenläden, echten und falschen Almen und des Karnevals der Funktionsklamotten steht plötzlich Hannah Ellgass, dunkelblond, jung, schlank, stark, frisch, mit roten Backen. Auf Hannahs Lippen ruht ein Siegerlächeln, das sie niemals verlässt. Hannah sagt zu mir: „Und du willst also langlaufen lernen?“
Lange Skier sind die perfekte Ausrüstung für die Reise in die Lächerlichkeit
Ich stürze schon beim Versuch, überhaupt nur in die Bindung zu kommen. Zwei sehr dünne Skier und zwei sehr lange Stöcke sind die perfekte Ausrüstung für eine Reise in die Lächerlichkeit. Und sie bieten die unterschiedlichsten Möglichkeiten, um sich in sich selbst zu verheddern. Natürlich weiß ich, dass es keine Schande ist zu stürzen, sofern man wieder aufsteht. Aber was ist eigentlich, wenn man beim Aufstehen gleich wieder stürzt? Ein kleines Mädchen, das von seiner Mutter den Fußweg neben der Loipe entlanggezogen wird, starrt mich an. In ihren Augen liegt Entsetzen, womöglich sogar Verachtung. Lerne erst mal selbst laufen, denke ich. Und warum geben sich eigentlich so viele Menschen damit zufrieden, dass sie im Laufe des Erwachsenwerdens gelernt haben, wie man den Herd bedient, unfallfrei zur Arbeit kommt und sich auf Partys unwohl fühlt – und wollen sonst nichts mehr dazulernen? Wieso sollte man sich nicht auch noch im mittleren oder höheren Alter an einer ganz neuen Aufgabe versuchen? Hannah Ellgass bringt mir nicht die klassische Langlauftechnik bei, sondern das Skaten. Man kantet den einen Ski schräg in den Schnee, um sich abzustoßen, und gleitet auf dem anderen nach vorne, während man sich gleichzeitig kräftig mit beiden Stöcken abstößt. Bei der 1-1-Technik kommt auf jeden Schritt ein Stockeinsatz. Bei der 2-1-Technik nur auf jeden zweiten. Bei allen diesen Übungen komme ich mir so elegant und beweglich vor wie ein Liegestuhl mit verrosteten Scharnieren, den man nach einem langen Winter zum ersten Mal wieder aus dem Schuppen holt und aufklappt.
Bindungsangst? Schon das Anschnallen der Skier erweist sich als Herausforderung.
Eine Sache macht mir Mut. Nicht immer gewinnen die Sportler, die am talentiertesten sind. Schon vor mehr als 4.000 Jahren bewegten sich die Menschen mithilfe von Holzbrettern über Schnee, die alten Norweger hatten sogar zwei Skifahrgötter, Ullr und Skadi. Dabei bewegte man sich wohl immer in der parallelen Technik vorwärts. Erst in den 1970er-Jahren verstieß der norwegische Polizist Pauli Siitonen gegen die Gesetze: Einen Ski führte er in der Spur, mit dem anderen drückte er sich ab, der sogenannte Halbschlittschuhschritt. Siitonen gewann mit der Technik einige Volksläufe. Der Amerikaner Bill Koch professionalisierte den „Siitonen-Schritt“ und gewann 1982 WM-Bronze. Die neue Technik wurde vom Langlauf-Establishment verachtet. Aber ausgerechnet in Seefeld, wo ich heute laufe, etablierte sich das Skating endgültig. Für die Weltmeisterschaft 1985 war eine enorm hügelige Loipe gelegt worden, weil man glaubte, dass man im Schlittschuhschritt keine harten Anstiege bewältigen könnte. Dennoch skateten fast alle Läufer, auch der Sieger, der Schwede Gunde Svan. Zu den wenigen unbelehrbaren Nostalgikern der klassischen Technik gehörte der griechische Schlagersänger Costa Cordalis, der Letzter wurde.
Die alten Norweger hatten zwei Skifahrgötter
Ich laufe an den beiden großen Schanzen von Seefeld vorbei, (wo man mich als Anfänger nicht akzeptiert hatte – zum Glück!). Gerade ist Training. Ein Springer nach dem anderen fällt den Hang hinunter, mehrere Sekunden lang, lautlos und so leicht und schwerelos wie die Schatten, die sie mit sich hinunter ins Tal ziehen. Ich denke an meinen eigenen 8,50-Meter-Hüpfer und kann es kaum fassen, zu welchen Leistungen der Mensch fähig ist. Und auf einmal läuft es auch bei mir. Die Loipe fällt leicht ab, mit einem Mal komme ich wirklich ins Gleiten, in den Armen scheine ich plötzlich viel mehr Kraft zu haben. Ich kann gar nicht mehr sagen, wo meine Hände aufhören und wo die Skistöcke beginnen, alles schwingt, als gäbe es gar keine Reibung mehr zwischen Ski und Schnee, als würde ich gar nicht mehr den Boden berühren. Normalerweise mache ich mir immer um irgendetwas Sorgen. Jetzt aber bin ich ganz bei mir, und falls ich überhaupt etwas denke, vergesse ich es sofort wieder, die Gedanken ziehen durch meinen Kopf wie Schäfchenwolken am Himmel.
Geht doch! In guten Momenten scheint man beim Skaten über den Schnee zu schweben.
Hannah Wagner unterbricht meine Euphorie: „Wie wäre es am Ende mit einem kleinen Wettkampf?“ Sie schlägt mir eine drei Kilometer lange Teilstrecke der WMLoipe vor. „Vielleicht schaffst du es ja in 15 Minuten.“ Ich starte und gerate bereits auf den ersten Metern ins Straucheln, weil ich zu viel will. Schon nach einem Drittel bin ich völlig außer Atem. Und dann beginnt erst der Berg, der direkt in den Horizont zu führen scheint. Irgendwann frage ich mich, ob es nicht besser wäre, die Skier abzuschnallen und zu Fuß den Berg hinaufzurennen. Meine Schultern und Oberarme brennen, mein Herz schlägt direkt in meinem Kopf, und zwar so fest, dass er beinahe platzt.
Zum zweiten Mal an diesem Tag liege ich im Schnee, zum zweiten Mal ist es grossartig
Der moderne Mensch fürchtet sich ja nicht nur vor der Gefahr, er fürchtet sich auch vor der Anstrengung und sitzt so schlaff auf Bürostuhl und Couch, als hätte man ihm die Knochen gestohlen. Aber fehlt uns dabei nicht auch was? Brauchen wir nicht manchmal auch ein wenig mehr Widerstand als nur den sanften Gegendruck der Computertastatur? Müssen sich nicht auch Erwachsene austoben? Ist es nicht großartig, einmal wirklich den Körper zu spüren? Sogar, wenn er fast brüllt vor Schmerz? Ich mache weiter, immer weiter, die Abfahrt, auf der ich mich kaum ausruhe, der Gegenanstieg, das lange Flachstück. Ein paar Langläufer drehen sich nach mir um, weil ich so laut stöhne. Das ist kein Sport mehr. Das ist ein Wutanfall. Mein Mund ist voller Blut. Sind das schon die zerplatzenden Lungenbläschen? Oder habe ich mir nur auf die Zunge gebissen? Weil mir der Schweiß in die Augen läuft, sehe ich nur ganz verschwommen, wie das Ziel näher kommt, und sprinte dann fast in Hannah Ellgass hinein. Ich falle sofort auf den Boden. „15 Minuten und 8 Sekunden hast du gebraucht“, sagt Hannah Ellgass „Das ist doch schon mal ein Anfang.“
Zum zweiten Mal an diesem Tag liege ich im Schneematsch, zum zweiten Mal ist es großartig. Ich kann nicht sagen, wann ich das letzte Mal so glücklich war, und genieße, wie der Muskelkater schon jetzt in meinen Körper kriecht, in jeden einzelnen Muskel. Hannah Ellgass steht über mir, die Abendsonne lässt ihr Haar glänzen, ich schwöre, es sieht fast so aus, als trüge sie einen Heiligenschein. Und sie ist ja wirklich eine Heldin, ein Rollenmodell, das mich dazu gebracht hat, über mich selbst hinauszuwachsen. Genau dasselbe hat auch Karl Heinz Eder für mich getan. Ich habe heute ganz neue Skills und Techniken kennengelernt. Und eine ganz neue Seite meiner Persönlichkeit. Ich habe meine Angst überwunden, die Trägheit der Beine und die Trägheit der Seele. Ich habe gelernt, dass ich viel mehr kann, als ich glaube. Und dieses Wissen wird mir auch im Alltag weiterhelfen. Es war nur für zwei Momente, über dem Schanzentisch und auf der Loipe – aber zwei Mal bin ich heute geflogen.