Mehr als schön
Kunst kann dazu dienen, gesellschaftliche Probleme zu lösen, meint die Kuratorin Nina Tabassomi. Seit 2017 leitet die Berlinerin das Taxispalais in Innsbruck – und zeigt gerne herausfordernde Arbeiten. Wenn Besucher sich einmischen und widersprechen, ist das ein Erfolg.
Nina Tabssomi, Kuratorin des Taxispalais in Innsbruck © Lisa Hörterer
Bevor Sie das Taxispalais Kunsthalle Tirol übernahmen, haben Sie in Berlin, Kassel, Paris und New York gelebt. Woran denken Sie, wenn Sie das Wort „Heimat“ hören?
Heimat ist für mich ein schwieriger Begriff, der wenig Gutes gebracht hat. Man kann sich doch an unterschiedlichen Orten wohlfühlen. Schon bei meinen ersten Gesprächen in Innsbruck konnte ich mir vorstellen, hier zu leben. Denn es sind vor allem die Menschen, die einen Ort lebenswert machen. Wenn man eine Kunsthalle leitet, freut man sich über ein Publikum, das sich auf Experimente einlässt – und so ist das in Innsbruck.
Was unterscheidet die Arbeit in Innsbruck von Ihrer Zeit als Kuratorin in New York?
In einer Stadt wie New York gibt es sehr viele Veranstaltungen in jedem Bereich. Das führt dazu, dass man mit Ausstellungen oft nur Spezialisten erreicht. Das Innsbrucker Publikum ist gemischter: Uns besuchen Studierende, Schulklassen, Berufstätige und auch viele ältere Menschen. Und in einer kleineren Stadt kann ich auch intensiver und konzentrierter mit Künstlerinnen und Künstlern zusammenarbeiten.
Zur Person
Nina Tabassomi übernahm 2017 das Taxispalais Kunsthalle Tirol. Ihre Karriere begann die gebürtige Berlinerin in ihrer Heimatstadt: Von 2011 bis 2013 arbeitete sie als Projektmanagerin am KW Institute for Contemporary Art in Berlin. Von 2013 bis 2015 war sie Kuratorin am Fridericianum in Kassel, wo sie das Ausstellungsprogramm für den Museumsturm verantwortete. 2016 war Tabassomi Kuratorin des Ludlow 38, eines Kunstraums des Goethe Instituts in New York City.
Die Kunsthalle ist eine öffentliche Einrichtung: Entsteht dadurch eine besondere Verantwortung?
Unsere Aufgabe ist, unser Publikum mittels Kunst zum Diskutieren über unsere Zeit anzuregen. In einer Kunsthalle heißt das auch, experimentelle Ausstellungskonzepte zu erproben, einerseits
internationale Künstler und Künstlerinnen einladen, aber auch die Kunstschaffenden vor Ort fördern. Die Kunsthalle soll ein Ort für kritische Zeitgenossinnenschaft sein. Das sehe ich als unsere Verantwortung.
Das Taxispalais befindet sich in der Maria-Theresien-Straße in Innsbruck. © Günter Kesser
Sie haben die Zahl der Ausstellungen pro Jahr reduziert, um zusätzliche Dialogformate einzuführen. Wie kommt das an?
Der Erfolg zeigt sich am Engagement unseres Publikums. Im vergangenen Hochsommer haben wir zum Beispiel eine Reihe veranstaltet, in der es um nicht diskriminierendes Sprechen ging: Vortragende aus verschiedenen Disziplinen diskutierten, wie man mit Sprache umgehen kann, ohne Personengruppen herabzuwürdigen. So ein anspruchsvolles Thema an Sommerabenden anzugehen, an denen man auch schön draußen im Café sitzen könnte, war ein Risiko. Doch wir hatten jedes Mal viel Publikum aus sehr unterschiedlichen Bereichen, das kontrovers mitdiskutierte und zur nächsten Veranstaltung wiederkam.
Was ziehen Sie selbst aus solchen Begegnungen?
Die Besucher und Besucherinnen bringen sich mit ihrem jeweiligen Fachwissen stark ein, und das ist ungemein bereichernd. Bei einem Workshop zur Ausstellung SEX diskutierte zum Beispiel ein Mediziner im Publikum sehr kontrovers mit Experten und Gender-Studies-Studierenden. Diese Vielfalt der Stimmen und Argumente erlauben es einem, den eigenen Standpunkt zu überdenken und zu präzisieren – wir lernen also voneinander und miteinander.
Es gibt auch viele Menschen, die einfach ins Museum gehen und schöne Bilder genießen wollen. Haben Sie Bedenken, diese Zielgruppe zu erschrecken?
Was uns heute schön erscheint, war zur damaligen Zeit auch gesellschaftlich relevant – weil künstlerische Arbeit eben nicht außerhalb der Gesellschaft stattfindet. Kunst hat immer schon die sie umgebende, nicht künstlerische Lebenswelt diskutiert, interpretiert und kommentiert. Das ist die große Stärke der Kunst. Sie öffnet unseren Horizont und bringt uns dazu, neue Fragen zu stellen und Dinge anders zu interpretieren, als wir es gewöhnt sind. Ich denke, das ist für alle interessant.
Kann man Kunst mit zu viel Theorie auch verderben?
Es geht ja nicht darum, den Arbeiten irgendetwas überzustülpen. Künstlerinnen und Künstler setzen sich selbst mit theoretischen Positionen auseinander und fragen: „Wie können wir heute Kunst machen in dieser Welt? Was ist unsere Rolle?“ Und diese Fragen gehen dann in die künstlerische Produktion ein. Früher waren Künstler eher Außenseiterfiguren und verkörperten gleichzeitig ein revolutionäres Potenzial. Das hat sich geändert. Unsere neoliberale Gesellschaft fußt auf vielem, was Kunstschaffende schon immer können mussten: flexibel und mobil sein, ständig neue Ideen haben, sich selbst präsentieren können. Heute werden solche Eigenschaften in fast jeder Jobausschreibung verlangt. Diese Problematik ist ein großes Thema in der Kunst, und die Frage ist: „Wie können wir als Teil des Kunstsystems, das selbst in viele Problemzusammenhänge unangenehm verstrickt ist, antreten, die Gesellschaft zu verändern?“
Ich finde es faszinierend, dass wir einen Kunstraum betreten und sofort wissen, wie wir uns verhalten sollen
Was nehmen Menschen aus Ausstellungen wie „Ökokino“ mit, in der Sie die Klimakrise thematisierten?
Diese Videoarbeiten haben das Angebot gemacht, unser Verhältnis zum Planeten und zum Nichtmenschlichen anders zu denken – und damit neue Öko-Logiken hervorzubringen. Sie zeigen, dass wir nicht alles neu erfinden müssen, sondern dass es Praktiken gab und gibt, die uns einen lustvollen Umgang mit unserer Umgebung vormachen. Sie erörtern, wie wir ohne das Gefühl, auf etwas verzichten zu müssen, im Einklang mit planetarischen Bedürfnissen handeln können. Die Arbeiten fordern uns auf, unser Denken zu verändern und so neue Verhaltensmuster zu finden.
Was mögen Sie an Videokunst?
Es gibt einfach sehr viele, sehr gute Künstlerinnen und Künstler, die mit Video arbeiten. Man kann darin komplexe Sachverhalte auf vielen Ebenen verhandeln. Tonspur, Bild und Text können sprechen – gemeinsam oder sich konterkarierend.
© Günter Kesser
Sie haben schon öfter Kunstschaffende erstmals überhaupt ausgestellt: Was ist das für ein Gefühl, ein Talent zu präsentieren?
Glück und Verunsicherung: Wenn mich eine Arbeit nicht loslässt, ich sie nicht ganz verstehe, aber immer wieder in Gedanken zu ihr zurückkehre, dann weiß ich, dass ich mit der Person früher oder später zusammenarbeiten möchte.
Auch die Tiroler Kunstschaffenden wollen Sie fördern. Wie genau?
Ich habe immer wieder Arbeiten aus Tirol ausgestellt, aber nicht, weil sie in Tirol produziert wurden. Es ist für mich das Gegenteil von Förderung, wenn man zu protektionistische Rahmen schafft. Ich habe sie ja eingeladen, weil ich sie für sehr gute Künstlerinnen und Künstler halte – und so präsentiere ich sie auch.
Beim Konzipieren einer Ausstellung würden Sie die Besucher immer mitdenken, sagten Sie mal.
Ich denke dabei nicht an konkrete Personen, aber ich habe eine Dramaturgie im Kopf. Wenn ich über die Gestaltung eines Raumes nachdenke, gehe ich zum Beispiel immer wieder zur Eingangstür zurück und vollziehe die Publikumserfahrung nach: reinkommen, Ticket holen, abbiegen in den Ausstellungsraum – und dann? Man kann die Erwartungen bestätigen oder mit ihnen brechen. Eine Ausstellung ist kein statisches Gebilde, sie wird von jedem Menschen anders wahrgenommen. Aber es gibt viele Ausstellungsrituale, die wir alle intus haben.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Ich finde es faszinierend, dass wir einen Kunstraum betreten und sofort wissen, wie wir uns verhalten sollten. Sogar Kinder verstehen, dass man in einer Ausstellung die Stimme dämpft und nicht rennt. Dass man ein bisschen Respekt vor diesen Arbeiten zeigt. Unser ganzer Blick fokussiert darauf, jedes Detail als bedeutungsvoll zu sehen. Wir standen wohl alle schon mal vor einem Feuerlöscher und überlegten: „Aha, von wem ist diese Arbeit jetzt?“
Eine solche Aufmerksamkeit bringen die Menschen mit, das muss man ihnen gar nicht sagen. Und das ist für mich ein unglaubliches Potenzial.