Die lebenden Toten
Der Verstorbenen gedenkt man in den Alpen nicht nur auf dem Friedhof, sondern auch mitten in der freien Natur. Marterl heißen die volkstümlichen Erinnerungstafeln, die an Verunglückte erinnern und uns beim Wandern urplötzlich die eigene Sterblichkeit vor Augen führen.
B171 bei Radfeld: Zwei Kreuze gedenken zweier Opfer von Verkehrsunfällen aus den Jahren 2001 und 2017. Statt Gemälden finden sich auf modernen Marterln oft Fotos – und in diesem Fall ein Goethe-Zitat.
Ein bisschen gruselig sind sie schon, die frommen Bildtafeln, an denen man in den österreichischen und bayerischen Alpen immer wieder vorbeiwandert. Die sogenannten Marterl sind an Bäume, Pfosten oder Säulen genagelt und meist durch ein schmales Dach notdürftig vor Wind und Wetter geschützt. Wer ein Marterl in der Landschaft entdeckt, weiß sofort: Hier ist et-was Schlimmes passiert. Denn die volkstümlichen Tafeln kennzeichnen Orte, an denen sich Unglücke, Unfälle oder Katastrophen ereignet haben.
In der klassischen Form sind Marterl oft bunt bemalt und mit Versen oder einem kurzen Text versehen. Auf Marterln erfährt man zum Beispiel, dass jemand beim Holzmachen zerquetscht, beim Hüten seiner Tiere vom Blitz erschlagen oder auf dem Weg von A nach B von einer Lawine erfasst wurde. Grundvoraussetzung für das Aufstellen eines Marterls ist stets der tödliche Ausgang der Sache.
Kundler Klamm: Im November 1920 fällte der Bäckermeister Johan Rappold Bäume in der Klamm – und stürzte dabei unter unglücklichen Umständen ab. Ein Marienbild und ein verblichenes Foto erinnern an sein Schicksal.
Der Tod, so die simple und einleuchtende Botschaft der Marterl, kann einen jederzeit und überall ereilen. „Früher hatten die Menschen große Angst vor dem jähen Ende“, sagt Karl Berger, Leiter des Volkskunstmuseums in Innsbruck. Als Volkskundler und Ethnologe kennt er sich mit den spezifisch tirolerischen Ausformungen der Frömmigkeit bestens aus. Ohne die letzte Ölung und die Möglichkeit der Beichte aus dem Leben zu scheiden, so Berger, war jahrhundertelang eine Schreckensvorstellung. Die ältesten erhaltenen Marterl gehen übrigens bis in das 17. Jahrhundert zurück.
Sankt-Michael-Str.: Nördlich von Wattens steht dieser Spruch: „Zum Gedenken an alle in unserer hektischen Zeit im Strassenverkehr verunglückten! Besonders unserem Sohn Christian Unterberger *20.08.1981 †23.08.2000“
Lechtaler Alpen: Auf dem Weg von Zams hinauf zum Württemberger Haus kann der müde Wanderer unter einer steinernen Tafel mit Wetterschutz rasten. Vielleicht findet er Trost in der Inschrift: „Jeder Weg hat mal ein Ende.“
Marterl haben ihren Platz in der freien Natur. Auf Wiesen, mitten im Wald oder eingeklemmt in Felsnischen. Man begegnet ihnen in Alpentälern, aber auch beim Kraxeln in den baumlosen Regionen hoch über den Dörfern. Überall, wo die Bergler auch früher schon unterwegs waren. Als Bauern, Waldarbeiter oder Reisende, als Schulkinder oder Hirtenbuben. Und in den vergangenen Jahr-zehnten wurden leider auch immer öfter Kreuze an Kreuzungen und in scharfen Straßenkurven aufgestellt.
Marterl hatten, so Karl Berger, verschiedene Funktionen. Einerseits sollte mit ihnen an einen Menschen erinnert werden, der aus dem Leben gerissen worden war, andererseits waren die Tafeln auch eine Art Warnschild, das an Gefahrenstellen aufgestellt wurde, um den Wanderern zu signalisieren, dass sie hier besonders aufpassen müssen. Und drittens hatten die Bildstöcke eine wichtige religiöse Funktion. Weil die Unglücksopfer keine letzte Beichte ab-legen konnten, so der Glaube damals, war die Seele im Fegefeuer gefangen. Deshalb wurden Passanten aufgefordert, ein Ave-Maria oder Vaterunser für den Verstorbenen zu sprechen. Jedes Gebet, das ein Vorbeikommender für die arme Seele sprach, würde dessen Eintritt ins Paradies beschleunigen. Nicht selten werden Betrachterinnen und Betrachter auf Marterln übrigens direkt angesprochen. In Osttirol bei Matrei gibt es zum Beispiel eine Tafel aus dem Jahr 1947, auf der es mit fast abgründigem Humor heißt: „Wanderer vernimm die Kunde, daß hier ging ein Mensch zugrunde. Danke Gott als guter Christ daß du’s nicht selbst gewesen bist.“ Und manchmal wird man so-gar von den Toten selbst adressiert – die so als Subjekt mit Wünschen und Bedürfnissen doch irgendwie überlebt haben: „Geh nicht vorüber Wandersmann / schau doch meine Unglücksstelle an. Eine Bitt hätt ich an Dich / ein Vaterunser bet für mich.“
Waldstraße: Marterl zwischen Hintersteiner See und Eiberg, wo 1956 ein Herr Peter Bichler, Stöfflbauer, wie es da heißt, unverhofft in die Ewigkeit abberufen wurde. Seine Familie bittet: „Herr gib ihm die ewige Ruhe“.
Osttirol: Oberhalb von Matrei in Richtung Klausen verstarb im Jahr 1880 die „Auserschweinacherbäuerin“ Elisabeth Preßlaber nach einem unglücklichen Sturz auf dem Eis. Sie wurde nur 24 Jahre alt.
Osttirol: Auf der Straße in Richtung Zedlach findet sich dieser Reim: „Wanderer vernimm die Kunde, daß hier ging ein Mensch zugrunde. Danke Gott als guter Christ daß du’s nicht selbst gewesen bist.“
Erler Landstraße: Nicht jedes Marterl spricht den Betrachter direkt an. Auf dieser Gedenkstätte zwischen Erl und Scheiben im Bezirk Kufstein steht nur ein Satz: Ein „Heilige Maria beschütze uns“ muss reichen.
Je mehr Leute vor einem Marterl beteten, desto besser. Schon deshalb, sagt Karl Berger, wurden die Tafeln nicht unbedingt an der Unfallstelle selbst, sondern oft in der Nähe von Straßen, Forstwegen oder Saumpfaden aufgestellt. Früher gab es so viele von ihnen, dass böse Zungen behaupteten, man würde mit Einheimischen kaum von der Stelle kommen, weil die sich alle paar Meter bekreuzigen oder auf die Knie fallen.
Wenn ein Bauer für seinen bei der Holzarbeit verunglückten Bruder ein Marterl in Auftrag geben wollte, musste er sich vor 200 Jahren meist in die nächst größere Marktgemeinde begeben oder warten, bis ein fahrender Künstler in seinem Weiler vorbeikam. Deshalb wurden die Tafeln oft auch erst viele Jahre nach dem Unglück errichtet.
Die professionellen Maler waren zu dieser Zeit in Zünften organisiert – und malten oft auch Votivbilder in Kirchen. Einige dieser Malerinnen und Maler sind Kunstgeschichtlern noch heute ein Begriff, erklärt Karl Berger, der sich intensiv mit der Herstellung von Bildstöcken beschäftigt hat. Nachdem Kaiser Franz Joseph im Jahr 1859 die Gewerbefreiheit eingeführt hatte, wurde die Qualität der Bilder und auch der Verse allerdings durchwachsener.
Auf vielen Marterln ist das Unglücksopfer zweimal dargestellt. Ein-mal direkt während des Unfalls und ein zweites Mal in betender Haltung mit einem Kreuz über dem Kopf. Als leben-der Toter sozusagen. Die Motive wirken manchmal ein bisschen wie ein Comic. Neben dem Verstorbenen befindet sich oft die Muttergottes, Christus oder ein Heiliger. „Typisch“, so Marterl-Experte Berger, „war auch eine transzendente Wolke, die den Übergangsbereich zum Himmel markierte.“
Frühe Touristen, die aus Städten oder gar protestantischen Gegenden stammten, waren von der Volksfrömmigkeit beeindruckt, aber auch irritiert. Dass es an Tirols Straßen und Wegen mehr „Heiligenbilder, Martersäulen und Kruzifixe“ gibt als Wegweiser, fand der Journalist und Schriftsteller Gustav Rasch schlicht-weg ärgerlich. „Rathlos steht der Reisende vor einer Martersäule“, schreibt er 1874 in „Touristen-Lust und Leid in Tirol“. „Bild und Schrift belehren ihn nur, daß vor zwanzig Jahren an dieser Stelle ein betrunkener Bauer den Hals gebrochen hat, aber nicht ob er rechts oder links gehen soll, um diesen oder jenen Ort noch vor Einbruch der Nacht zu erreichen.“
Auch über die oft recht holprigen Verse machten sich weniger gläubige Zeitgenossen wie der bayerische Journalist Ludwig Steub lustig. Er zitiert in einem Zeitschriftenartikel aus dem Jahr 1880 ein Marterl, auf dem stand: „Hier ward vom Blitz erschlagen / Ein Ochs, ein Bua, eine Kuh. / Herr, gieb ihnen die ewige Ruh“.
Das Marterl durchläuft eine Evolution: Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde im Gebirge nicht nur einheimischer Opfer gedacht, sondern auch verunglückter Bergsteiger, die ja meist Ortsfremde waren. Und statt Gemälden schmücken seit dem Aufkommen des neuen Mediums Fotografie meist Porträtfotos die Gedenktafeln und Kruzifixe. „Das fotografische Abbild des Toten wird in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg Haupterinnerungsmerkmal“, sagt Berger. Die „logische Fortführung des Marterls“ sieht er in den Kreuzen und Gedenkstätten, die heutzutage an Unfallstellen am Straßenrand errichtet werden.
Auch wenn inzwischen nur noch wenige Wanderer vor den frommen Tafeln wirklich Gebete sprechen, funktionieren sie nach wie vor als Memento mori – erzählen Geschichten, die von der Verletzlichkeit und Sterblichkeit des Menschen handeln. Es geht um Kinder, die beim Spielen in einen Bach gefallen sind, um den plötzlichen Herztod, der einen jederzeit ereilen kann, oder eine Kutsche, die samt ihren Passagieren in den Abgrund gestürzt ist.
Matrei in Osttirol: Östlich der Zeller Iselbrücke steht diese Marterlgruppe mit Votivbildern, die gleich mehrerer Menschen gedenken, die zwischen 1869 und 1963 bei Lawinen und anderen Bergunfällen ums Leben kamen – außerdem wird Maria um „Hilf gegen Hunger und Pest“ gebeten.
Hintersteiner See: Die Marterl sind so vergänglich wie der Mensch selbst. Auf der Runde um den Hintersteiner See im Wilden Kaiser findet sich eine verrottete Gedenkstätte. Ihre Geschichte bleibt im Dunkeln
Das Schöne an Marterln, findet der Volkskundler Karl Berger, sind die Geschichten, die sie uns bis heute erzählen. Im Vorbeigehen sozusagen. So schablonenhaft die Bilder und Verse oft auch sein mögen, lassen sie uns doch auf emotionale Art und Weise am Schicksal der Verunglückten teilhaben – und transportieren uns so in eine andere Zeit.
Als besonders kurioses Beispiel hat Karl Berger ein Marterl aus Inzing parat. Es zeigt einen Priester, der mit den Heiligen Sakramenten zu einem Sterbenden unterwegs ist und auf dem Weg selbst einem Schlaganfall erliegt. Der Priester sackt zusammen und stirbt. Dabei wird er von einem Mann mit Mühe und Not gehalten, was ungelenk und fast skurril wirkt. Aber offenbar will der Begleiter mit allen Mitteln verhindern, dass die Hostie und der Kelch auf den Boden fallen.„Als Normalsterblicher“, erklärt Karl Berger, „durfte der Mann die Sakramente nicht berühren und musste deshalb den Priester mühsam stützen, bis der Priester der Nachbargemeinde ihn aus der misslichen Situation befreien konnte“. Geschichten wie diese, sagt Berger, seien Portale in eine andere Gedanken- und Gefühlswelt. Eine Welt, in der religiöse Vorstellungen und Regeln noch fundamentale Bestandteile des Lebens waren, die den Alltag der Menschen bestimmten.
Dass die meisten der alten Tafelbilder früher oder später verblassen und schließlich verrotten werden, findet Karl Berger übrigens trotzdem in Ordnung. „Marterl gehören in die Landschaft“, sagt er. „Und da ist alles vergänglich.“
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