Einblick in den Bauernhof: Alle unter einem Dach
Seit Generationen betreibt die Familie Falschlunger einen Hof in Mutters – und lebt schon aus Platzgründen eng mit dem Vieh zusammen. Die Nähe zwischen Menschen und Tieren sorgt für Ruhe und Zufriedenheit – und zeigt, warum diese kleinen Betriebe nicht verschwinden dürfen.
Noch ist das Nest an der weiß gekalkten Wand leer. Noch sind die Zugvögel nicht aus Afrika heimgekehrt und keine Schwalbe schwirrt durch den Stall. Während Klaus Falschlunger den Mist auf die Schubkarre lädt, verteilt sein Vater Andreas das Heu an den Fressplätzen. Im Vorbeigehen legen die Männer ihre Hände ganz automatisch auf die großen Körper der Kühe. Vertraut, zärtlich fast, wirkt der Umgang mit den Tieren.
Viel Platz ist ja nicht in dem alten Stall, auch wenn es ein bisschen mehr Licht gibt seit dem letzten Umbau. Zum Melken quetschen sich die beiden schlanken Biobauern zwischen das Tiroler Grauvieh. Dabei müssen sie achtgeben, denn die Kühe tragen Hörner. „Das kennt man heutzutage ja fast nur noch aus der Werbung“, meint Andreas, der mit seinem Schnurrbart wie ein Westernheld aussieht. Andreas, 65 Jahre alt, und Klaus, 38, arbeiten routiniert nebeneinanderher. Schweigend und entspannt. Gesprochen wird eher mit den Tieren als untereinander. „Komm Silva, beweg dich ein bisschen.“
Es ist kurz nach 18 Uhr. Carina, 36 Jahre, die Ehefrau von Klaus, marschiert in Gummistiefeln durch den Schober, um die Futtersäcke der Pferde zu füllen, deren Unterstände sich gleich hinter dem Bauernhaus befinden. Der sechsjährige Michael füttert im Garten seine Kaninchen Peter und Olivia. „Der Peter ist aber eigentlich ein Mädchen“, erzählt Michael, „nur haben wir das noch nicht gewusst, als wir die beiden getauft haben.“
Seine drei Jahre ältere Schwester Marie führt gerade zwei Kälber in den Stall, einen kleinen Stier, dessen Fell die Farbe heller Eierschalen hat, und das Braungescheckte. Erst tollen die beiden Kälber herum, zwängen sich dann bald neben ihre Mütter, um zu trinken. Die Landwirte verzichten zugunsten des Glücks und der Gesundheit ihrer Tiere auf ein paar Liter Milch. Muttergestützte Kälberaufzucht nennt sich das. Billiger wäre es, die Kälber mit Milchpulver zu versorgen. „Bei uns gehören die Kühe ja fast zur Familie“, sagt Klaus, „da gönnen wir ihnen gerne Zeit und Nähe mit ihren Kälbern.“ Wie aus der Werbung. Aber in echt.
Marie und das Kälbchen Lessja sind Spielkameraden und wachsen gemeinsam auf.
Bei der muttergestützten Kälberaufzucht bleiben die Kälber drei bis vier Monate bei ihren Müttern. Hier bekommt Leo gerade sein Frühstück.
In Tirol gibt es 14.215 land- und forstwirtschaftliche Betriebe. Zwar gibt es knapp eine Million Hektar Agrarfläche, aber durch die engen Täler und steilen Hänge auch kaum große Felder – und entsprechend wenig Großbetriebe. 85 Prozent der Tiroler Bauernhöfe sind familiengeführt – und 56 Prozent in Teilzeit bewirtschaftet. Weil der Ertrag von Feld und Vieh oft nicht reicht. Weil das Leben im Rhythmus der Natur und in der Nähe der Tiere für viele Familien trotzdem zum Leben dazugehört. Oder wie Klaus sagt: „Weil es einfach eine sauschöne Arbeit ist, Lebensmittel zu erzeugen.“
Auch die Familie Falschlunger in Mutters gehört zu den sogenannten Nebenerwerbslandwirten und bewirtschaften 4 Hektar Grünland, 2 Hektar Ackerland und 1 Hektar Wald. Klaus arbeitet 25 Stunden die Woche in der Verwaltung des Physikalischen Instituts im nahen Innsbruck, Carina ist gelernte Krankenschwester. Ohne dieses Zusatzeinkommen könnten sie den Hof nicht halten. „Gerade deshalb“, sagt Klaus, „machen wir die Sachen so, wie wir es richtig finden.“
Schon sein Vater Andreas war kein Vollerwerbsbauer mehr und arbeitete bis vor Kurzem in der Raiffeisenbank, seine Mutter Martha, 64 Jahre, war Lehrerin und organisierte später Programme für Schulklassen und Kindergeburtstage auf dem Hof: „Das war über viele Jahre ein sehr gutes Zubrot für uns.“
Die Landarbeit erledigen alle zusammen, auch wenn jeder seinen Zuständigkeitsbereich hat. 65 Arbeitsstunden investiert die Familie ungefähr pro Woche. Martha ist für die 50 Hühner und die Zwergziegen verantwortlich, Carina kümmert sich um die Pferde, die sieben Bienenvölker, den Hofladen und die beiden Ferienwohnungen, und die Männer erledigen die Milchwirtschaft und füttern die Duroc-Schweine mit zu klein geratenen Kartoffeln vom eigenen Acker und Molke. Die zwei, drei Schweine, die sich neben dem Hühnerstall suhlen, werden jedes Jahr im Frühjahr gekauft und im Winter geschlachtet. Sieben Milchkühe stehen im Stall der Falschlungers. Fünf Stück Tiroler Grauvieh und zwei Holsteiner, die Klaus „Adoptivkühe“ nennt. Eine bekam seine Schwester zur Matura geschenkt, die andere ist Überlebende einer Gasexplosion, bei der ein Stall im Wipptal zerstört wurde.
Dass es den Falschlungers nicht um den Profit geht, merkt man auch an ihrer Sympathie für das traditionelle, aber weniger ertragreiche Grauvieh. „Unsere Grauen sind temperamentvoller, gesünder und langlebiger“, erklärt Andreas „Die raufen auch mal und spielen miteinander. Die Holsteiner Milchmaschinen fressen nur den ganzen Tag.“ Eins aber haben alle Kühe gemein: Lucy, Emmi, Silva, Stella, Lieselotte, Anja und Lilly bekommen seit einigen Jahren keine Silage mehr zum Fressen sondern nur Grünfutter, Heu und ein wenig Getreide. Die Heumilch schmeckt seitdem noch besser und ist obendrein gesünder. Und seit der Umstellung stinkt es im Stall der Falschlungers nicht mehr nach vergorenem Gras. „Das ist ein riesengroßer Vorteil“, sagt Carina, „besonders, wenn du wie wir mit den Kühen unter einem Dach lebst.“
Dass es hier noch Bauern wie jene vom Mesneranderlhof gibt, finden die Einwohner von Mutters gut und wichtig.
Früher war es für viele Menschen üblich, ein Gebäude mit dem Vieh zu teilen. Heute sind solche Höfe selten geworden. Zumindest in Mitteleuropa. Die intensive Landwirtschaft lagert die Tiere in große, oft voll automatisierte Ställe aus. Aber: Wer hundert Kühe oder mehr hat, gibt
ihnen keine Namen mehr und hat auch keine Zeit, selbstverständlich über ihr Fell zu streichen. Bei den Falschlungers weiß jedes Familienmitglied, dass „die Lieselotte eine ruhige, eher eigenbrötlerische“ Kuh ist und welche Hühner beim Ausmisten am lautesten schimpfen. „Und es hat schon auch seine Vorteile“, erzählt Andreas, „dass Martha und ich unser Schlafzimmer direkt über dem Stall haben. Da hören wir, wenn eine Kuh in der Nacht ein Kalb kriegt, und können gleich runtergehen.“ Durch die alpine Topografie und vielleicht auch durch eine gewisse Knorrigkeit der Menschen hat in Tirol ein Kleinbauerntum überlebt, das sonst in der Moderne vom Aussterben bedroht ist. Es macht sich zwar nicht unbedingt bezahlt, erscheint aber vielen Menschen trotzdem wertvoll und erhaltenswert. Der Mesneranderlhof liegt im Ortskern von Mutters am Eingang zum Stubaital und „wurde im Jahr 1299 zum ersten Mal urkundlich erwähnt“, wie Andreas stolz erzählt. Eine Kopie des Dokuments hängt im Flur neben den Kuhglocken. Seit dem Jahr 1766 wohnt die Familie Falschlunger nachweislich in dem stattlichen Gebäude, das zwischen Pfarrkirche und Musikschule liegt, umgeben von Bauernhöfen, aber auch von Neubauten, Parkplätzen, Glas und Beton. Dicht an dicht liegen die Grundstücke in der 2.285-Seelen-Gemeinde. Schließlich gehört
der schmucke Ort zum Speckgürtel der Großstadt Innsbruck. Die wenigsten Nachbarn der Falschlungers sind selber Bauern. Aber die meisten finden es gut, dass es im Ort noch Tiere gibt und hier regionale Lebensmittel erzeugt werden. Die Kinder kommen auf ihrem Schulweg an der Wiese hinter dem Haus vorbei, wo die Kühe in den wärmeren Monaten weiden. Und wer zum Gemeindeamt will, begegnet zwangsläufig auch Bewohnern des Mesneranderlhofs. Viele bleiben stehen, um Sakura, die Friesenstute, zu kraulen oder das Pony Blacky, und Seiser, dem Haflinger, wenigstens ein bisschen zuzusehen. Reitpädagogikstunden kann man auch buchen und spielerisch lernen, wie Menschen und Pferde miteinander umgehen sollten.
Aber natürlich ist eine Landwirtschaft mit Kühen, Schweinen und Hühnern alles andere als der sprichwörtliche Ponyhof. Eines Tages werden die Tiere getötet. „Wir lassen unsere Kühe um die Ecke in Axams schlachten“, erzählt Klaus. Der Betrieb liege zwar ein bisschen weiter weg als das nächstgelegene Schlachthaus, sei aber kleiner und damit persönlicher. Da dürfe man als Bauer noch mit reingehen und dabei sein, wenn die Kuh oder das Kalb getötet werden: „Es ist nie fein, wenn das Tier geschlachtet wird, aber es bis zum Ende zu begleiten, ist das Beste, was man tun kann.“
Lieselotte wurde am 25. Januar 2018 geboren. Sie lebt mit Klaus, Carina, Marie, Michael, Andreas und Martha zusammen.
Die Falschlungers sorgen sich um das Wohlergehen ihrer Tiere, soweit das möglich ist. Und als Biolandwirte wollen sie eine positive Rolle im Natur- und Landschaftsschutz spielen. „Wenn du imkerst oder deine Schweine draußen hältst, tust du das nicht für Geld“, sagt Carina.
Sie macht sich große Sorgen um das Artensterben, den Klimawandel, aber auch um das Höfesterben. „Die Situation vieler Bauern ist dramatisch“, sagt sie. Die Zahlen bestätigen ihre Sicht. Zwischen 2010 und 2021 wurden in Tirol 1.387 Agrarbetriebe geschlossen. Jahr für Jahr werden es weniger. Für die Falschlungers ist das kein Grund aufzugeben. Im Gegenteil. „Wir müssen neue Wege gehen und zeigen, dass es anders geht“, sagt Carina.
Für ihre Familie sei der Hof eben auch eine Art Plattform, auf der viele Experimente und Projekte stattfinden können. Und Ideen und Projekte haben die Falschlungers viele: ein Folientunnel, das Gelände für die Freilandschweine optimieren und vielleicht irgendwann doch einmal ein neuer Kuhstall. Es ist jetzt 19.30 Uhr. Andreas und Martha spazieren mit dem Schubkarren zu den Hühnern und Zwergziegen hinunter. Deren Gehege und der Gemüsegarten der Familie liegen 250 Meter vom Haus entfernt am Ortsrand, direkt neben den Schienen der Regionalbahn. „Im Dorf ist es oft so laut“, sagt Martha, „und wenn ich hierherkomme, ist das für mich ein richtiges Paradies.“
Einmal, erinnert sie sich, habe der Zugführer abends bei ihnen angerufen, weil er im Vorbeifahren etwas bemerkt hatte: „Schaut doch noch mal zu euren Hühnern hinunter, ich glaube ihr habt vergessen die Stalltür zu schließen.“ Und dann sagt Martha etwas, das ihre Familie exemplarisch vorlebt: „Das Miteinander von Mensch und Tier funktioniert dann gut, wenn es auch zwischen
den Menschen stimmt.“