Tiroler Schnäpse sind kulinarische Tradition und Volkskultur. Erleben Sie…
Rüben Sunrise Cocktail
"Drei davon würde ich nicht trinken", meint der Schöpfer des Kraut & Rüben – ist aber trotzdem vom Erfolg des Experiments überzeugt.
Unter den vielen einzigartigen Destillaten Tirols ist der Krautinger der vielleicht eigenartigste: Man mag ihn oder man mag ihn nicht, heißt es. Die meisten mögen ihn nicht. Aber kann man vielleicht trotzdem einen trinkbaren Sommerdrink daraus kreieren? Wir haben Barmänner unseres Vertrauens vor diese Herausforderung gestellt – und viel über Geschmack gelernt.
Gerüche spielen im Leben von Damir Bušić eine wichtige Rolle. Vom Moment der Geburt, ist der 45-jährige Tiroler überzeugt, speichert das menschliche Gehirn ununterbrochen Aromen ab. Deshalb betrachtet Damir Bušić die Drinks, die er im Liquid Diary in der Innsbrucker Innenstadt kreiert, als indirektes Resultat seines gesamten Lebens. Und deshalb schaltet er nach dem Aufsperren erst mal die Lüftungsanlage ein.
Damir Bušić
„Der Gast“, sagt Bušić, „soll direkt von einem Aroma begrüßt werden.“ Die Anlage ist mit einem Diffusor ausgestattet, der in wohldosierten Wölkchen kleine Mengen Duftöl der Sorte Marsala zerstäubt. Noten von Harz, Tonkabohnen und Vanille, Bušić erinnert der Geruch an seine Zeit in Hongkong, wo er vor ein paar Jahren als Chefbarkeeper im exklusiven Kee Club arbeitete. Der Duft ist gut gewählt und wirkt, wie die Bar mit ihrem kolonialen Samtlook, opulent und doch unaufdringlich.
Erst dann widmet sich Damir Bušić dem schlanken Fläschlein, das auf seinem Tresen steht. Korken raus, einen Schluck in ein tulpenförmiges Verkostungsglas, schneller Schwenker mit dem Handgelenk. Sofort macht sich ein intensiv säuerlicher Geruch breit. Als hätte jemand einen mit Kohl gefüllten Kühlschrank im Hochsommer auf die Straße gestellt und jetzt, etliche Wochen später, die Tür geöffnet.
Kurz gibt es ein Ringen der Aromen. Exklusiver Raumduft gegen Kohl-Kühlschrank. Ein ungleicher Kampf. Bald riecht die Bar nach dem Inhalt des so harmlos aussehenden Fläschleins: dem Krautinger. Aus ihm soll Damir Bušić einen Drink kreieren. Der Krautinger ist selbst für das an eigenartigen Destillaten nicht arme Tirol speziell. Gebrannt wird er aus der Stoppelrübe, die in Tirol auch „Soachruam“genannt wird und vor der Verbreitung der Kartoffel ein Grundnahrungsmittel in Europa war.
Roh verzehrt erinnert der Geschmack der Rübe an Kohlrabi, ist jedoch süßlicher, bitterer, mit einer prägnanten Senfnote im Nachgeschmack. Unter kulinarischen Gesichtspunkten ein fragwürdiges Ausgangsprodukt für einen Schnaps. Und der Grund, warum man seinen ersten Krautinger meist von jemandem mit hämischer Miene serviert bekommt.
Kurzum: Manche lieben ihn, viel mehr fürchten ihn, aber was vermutlich noch nie jemand getan hat – einen trinkbaren Sommerdrink damit zu kreieren.
Die meisten Cocktailrezepte basieren auf ein paar einfachen Prinzipien: Die Aromen sollen harmonieren, Süße und Säure ausgewogen sein, der Alkohol zwar durchkommen, aber nicht alles dominieren. Doch viele Cocktails enthalten noch eine weitere, sehr viel interessantere Komponente: eine Zutat, die man aufgrund ihres Geschmacks eigentlich abstoßend finden sollte. Drogenforscher sprechen in diesem Zusammenhang von erlernten Geschmackspräferenzen. Wir lieben die Bitterkeit von Wermut oder die Torfigkeit von Scotch, weil sie uns besonders eindrücklich an das wohlige Gefühl des Rausches erinnern. Eine Rolle, die der Krautinger mit seinem breitbeinigen Geschmacksprofil doch perfekt erfüllen könnte. Oder?
Wie alles begann
Um das herauszufinden, starten wir ein Experiment: Wir bitten einige erfahrene und hochkompetente Barkeeper aus verschiedenen Städten, mit dem Krautinger einen neuen Sommerdrink zu mixen. Vielleicht ist er ja die Cocktailzutat des Jahrzehnts? Erster Stopp: die wohl renommierteste Bar im deutschsprachigen Raum. Das Schumann’s in München. Doch dort verwandelt sich die anfängliche Skepsis, mit der man uns begegnet, schnell in brüske Ablehnung. Dazwischen liegt eine kurze Google-Suche nach dem Geschmack des Krautingers. „Das ist doch eine Schwachsinnsidee“, lautet das anschließende
Resümee.
Auch in der Goldenen Bar von Klaus St. Rainer im Münchner Haus der Kunst blitzen wir ab, in der Bar Gabányi erringen wir den ersten Teilerfolg. Der legendäre Barkeeper Stefan Gabányi erklärt sich bereit, es zu versuchen – und macht dann doch einen Rückzieher, als er den Krautinger erstmals probiert.
Doch dann die erste richtige Zusage: „Der Krautinger ist ein regionales Produkt“, sagt Damir Bušić am Telefon. „Der Respekt davor gebietet es einfach, dass wir es wenigstens mal versuchen.“
Danke, Kaiserin Maria Theresia!
Ein wolkenloser Spätsommertag in der Wildschönau. Am Steinerhof bei Oberau schlendert der Hauskater über die Hofeinfahrt, alles ist ruhig. Nur eins stört die prachtvolle Idylle: Hin und wieder wabert ein penetranter Geruch über den Hof, scharf und säuerlich.
Es sind die Stoppelrüben, die in der ehemaligen Garage hinter dem Haus zuerst gewaschen, dann gehäckselt und schließlich gepresst werden. Der so gewonnene Saft ist das Ausgangsprodukt, aus dem Maritta Thaler an diesem Tag ihren Krautinger brennen wird. Die 26-Jährige ist eine der jüngsten Brennerinnen in der Wildschönau und setzt eine jahrhundertealte Tradition fort.
Das Recht, aus Rüben einen Schnaps zu brennen, geht auf ein Dekret der Kaiserin Maria Theresia Mitte des 18. Jahrhunderts zurück. Weil der Anbau von Obst in derhochgelegenen Wildschönau kaum Ertrag brachte, verlieh sie den verarmten Bauern ein Monopol für die Herstellung des Rübenschnapses. Heute machen noch 16 Höfe von dem alten Recht Gebrauch.
Die modernsten Krautinger-Destillerie der Welt steht in der ehemaligen Garage des Steinerhofes. Nur etwa 2.000 Liter werden jedes Jahr produziert.
Für ein gutes Destillat müssen Vorlauf und Nachlauf sauber abgetrennt werden, damit man das hochwertige Herzstück erhält.
Maritta Thaler ist begeistert, als wir ihr von unserer Idee mit dem Krautinger-Cocktail erzählen. Seit Kurzem experimentiert sie selbst mit dem Schnaps, lagert ihn etwa in einem Akazienfass, um den Geschmack zu verfeinern. Ihr Vater Josef, von dem sie das Brennen gelernt hat, ist skeptischer. „Das ist doch nur Werbung für etwas, das wir gar nicht liefern können“, sagt er. Tatsächlich brennen sie in der Wildschönau jedes Jahr nur etwa 2.000 Liter, die meist innerhalb kurzer Zeit vergriffen sind. In der Wildschönau gilt der Krautinger nicht nur als Delikatesse, sondern auch als Medizin. Auch auf dem Steinerhof sind sie fast ausverkauft. Zwei kleine Flaschen kann Maritta Thaler ins Liquid Diary nach Innsbruck schicken.
Dort nimmt Damir Bušić, der unter anderem 2018 den „World class Bartender Austria“ gewann, erst mal einen vorsichtigen Schluck – und stellt fest, was fast alle Krautinger- Neulinge feststellen: „Riecht anders, als er schmeckt.“ Das Spiel wiederholt er einige Male, riecht, schmeckt, riecht erneut. Erkennt Noten von geröstetem Roggen und dem Sauerkraut, das seine kroatische Oma zu Weihnachten eingemacht hat. Lobt den Film, den der Krautinger auf der Zunge hinterlässt. Währenddessen entsteht in seinem Kopf ein Rezept. Dann legt er unvermittelt los. Greift zum selbst gemachten Rote- Rüben-Sirup und zum Haselnusslikör, außerdem zu einer Flasche, die verdünnte Apfel- und Zitronensäure enthält. „Die ist weniger aggressiv als Zitronenoder Limettensaft. Damit bleibt das Aroma besser erhalten“,,sagt Bušić. Er verrührt die Zutaten mit Eis in einem Shaker, gibt noch einen Spritzer Walnussbitter dazu und gießt das Ganze in ein geeistes Cocktailglas. Zum Schluss noch einen Chip von der dehydrierten Chioggiarübe als Garnitur, fertig ist der erste Versuch. „Gar nicht so schlecht“, sagt Bušić, nachdem er probiert hat. Doch schon beim zweiten Schluck schüttelt es ihn. „Mein Gott“, sagt er. „Probieren wir es doch lieber mit Zitronensaft.
70 Kilometer weiter östlich, bei Maritta Thaler auf dem Steinerhof, dürfte das, was gerade im Liquid Diary passiert, für Heiterkeit und auch ein bisschen Stolz sorgen. Denn sie schätzt einen guten Krautinger, das krautige Aroma der Rübe, aber mild und ölig im Abgang. Anders als die Zutaten der meisten Edelbrände wie Zwetschgen, Marillen oder Williamsbirnen hat die bescheidene Stoppelrübe einen Zuckergehalt von nur 5 Prozent, weshalb die Rüben zunächst gehäckselt, gepresst und eingekocht werden, um den für die Vergärung notwendigen Zuckergehalt zu erreichen. Dabei kann allerlei schiefgehen, erzählt Maritta Thaler. In die Maische sei früher regelmäßig Buttersäure gelangt, die für starke Fehlaromen im Endprodukt sorgt. „Ich werde immer wieder gefragt, ob wir auch noch einen richtigen Krautinger dahaben“, sagt Maritta Thaler. „Dabei meinen die Leute eigentlich ein misslungenes Produkt.“ Auf dem Steinerhof etwa haben sie deshalb in eine moderne Brennanlage investiert und feilen ständig an der Qualität ihres Schnapses.
Alter Schnaps, neue Methoden. Hier kontrollier Maritta Thaler, 26, mit einem Rekfratometer den Zuckergehalt des Rübensafts.
Zurück im Liquid Diary ersetzt Damir Bušić die verdünnte Apfel- und Zitronensäure durch Zitronensaft. Statt die Zutaten nur zu verrühren, gibt er sie mit Eis in einen Shaker. „Das Shake-Wasser verdünnt das Aroma leicht“, sagt er. Doch als er das Ergebnis probiert, ist er trotzdem noch nicht glücklich. Er fügt einen Tropfen Kardamombitter hinzu, trinkt einen Schluck, nickt zufrieden – und tauft den Drink „Kraut & Rüben“. Er hat einen angenehm vollen, erdigen Geschmack. Süße und Säure sind ausgewogen, das Aroma des Krautingers wird eingehegt, ohne verloren zu gehen. Und der sonst so unangenehme Geruch geht dank des Kardamombitters in einer neuen verheißungsvollen Vanillenote auf. „Ich würde wohl auch nicht drei davon trinken, aber ich würde ihn auf jeden Fall probieren“, sagt Bušić. Wie sich wohl ein Nichttiroler schlagen würde, der noch nie zuvor vom Krautinger gehört hat? „Ohne die regionale Aromapalette“, sagt Bušić, „wird er sich schwertun.“
Jenseits von Tirol
Auftritt Jakob Habel. Der 31-Jährige steht hinter dem Tresen der preisgekrönten Zephyr Bar in München und schnuppert neugierig an einem Glas mit Krautinger. Erste Assoziation: der malzige Zuckerrübensirup, den sein Vater immer als Brotbelag aß. Das reicht. In Höchstgeschwindigkeit wählt er Zutaten aus, um den Drink in einem großen Rührglas „zu bauen“, wie er es nennt. Tatsächlich studierte er Bauingenieurwesen, erzählt Jakob Habel später, bevor er sich dazu entschloss, Bartender zu werden. Nach wenigen Minuten steht ein kleiner, klarer Drink auf dem Tresen. Darin: Gin, Krautinger, Wermut und Verjus, ein saurer Saft aus unreifen Weintrauben. Der Drink ist stark und schmeckt doch mild, der hohe Alkoholgehalt ist dem intensiven Aroma des Krautingers ein guter Gegenspieler. Jakob Habel nennt ihn einen „Profitrinker- Drink“ und begeistert sich für den „angenehmen Sauerkrautgeschmack“.
Der 31-jährige Jakob Habel ist studierter Bauingenieur. Seine Neigung zu präzisen Konstruktionen demonstriert er am Tresen. Mit der Zephyr Bar, wo er seit 2019 arbeitet, räumten sie schon mehrfach bei den Mixology Bar Awards ab.
„Der Krautinger ist bei Weitem nicht das Finsterste, mit dem wir hier experimentiert haben“, sagt Habel. Er erzählt von einem höllisch scharfen Kräuterschnaps, von Spargel, den sie in Gin eingelegt haben und fehlgeschlagenen Fermentationsversuchen. „Das können wir eigentlich auch noch probieren“, sagt er plötzlich und kramt eine Dose mit eingelegten Karottenscheiben aus dem Kühlschrank. Er schnappt sich ein frisches Rührglas in das er Gin, Krautinger, Verjus, Zuckersirup und Cocchi Americano gibt, einen mit Enzianwurzel aromatisierten Aperitifwein. Dann fügt er noch ein paar Löffel Lake aus der Karottendose hinzu. Die Farbe des Drinks: ein beinahe unmerkliches Gold. Der Geschmack: zugänglich, ohne übermäßig süß zu sein, und mit einer leichten Bitternote durch die Enzianwurzel. Doch zum eigentlichen Star wird auf einmal der so gewöhnungsbedürftige Krautinger. In der leicht würzigen Lake findet er eine Ergänzung, mit der er perfekt harmoniert. Der „Karottinger“, wie ihn Jakob Habel tauft, ist ein sensationeller Drink.
Hübsch sieht er schon mal aus, aber schmeckt er auch? Theoretisch müsste die Kombination aus Krautinger (Sauerkraut) und Gin (Wacholder) jedenfalls passen.
In einer Welt, in der es Hunderte Ginsorten gibt, die oftmals klingen, als wären sie von der Shampooabteilung im Drogeriemarkt inspiriert, wirkt der Krautinger mit seiner Stoppelrüben- Biografie wie ein aus der Zeit gefallener Wilder. Doch der Krautinger, und das ist wahrscheinlich das Geheimnis seines andauernden Erfolgs, versucht gar nicht erst, allen zu gefallen. Er verkörpert wie kein anderes Produkt das Tiroler Selbstverständnis, dass man im Leben nichts geschenkt bekommt und sich das wenige Glück dieser Welt schon selbst erarbeiten muss. Jeder Krautinger ein kleiner Kampf, ein Mutpröbchen in Stamperlgröße. Es ist dieser stolze Anachronismus, weshalb ihn erstaunlich viele Menschen aufrichtig lieben. Ein guter Drink, da sind sich Damir Bušić und Jakob Habel einig, ist einer, der im Gedächtnis bleibt. „Die Geschichte hinter dem Drink ist das A und O“, sagt Jakob Habel. So gesehen ist der Krautinger wahrscheinlich nicht die leckerste Zutat für einen Cocktail, aber vielleicht trotzdem genau die richtige.