Der Berg Groovt
Fotos: Charly Schwarz
Wer an den Sound von Tirol denkt, hat Volksmusik im Ohr. Doch zwischen Kufstein und Landeck findet sich Vielfalt – unter anderem mit einer lebendigen Jazzszene. Besonders in Innsbruck mischen sich junge und etablierte Musiker, die nicht nur Blasinstrumente in einem sehr modernen Rhythmus spielen.
Felix Heiß ist übernächtigt. Sein Kopf hängt über den Tasten des Flügels wie eine verwelkte Tulpe. Wie ging dieser Einstieg noch mal? Seine Bandkollegen schauen ihn erwartungsvoll an. „Ja, ja“, sagt der Pianist: „Sekunde noch“. Und dann purzeln die Noten aus ihm heraus. Schlagzeuger Max Schrott streicht mit den Besen über die Snare Drum, Anna Reisigls Bass schreitet auf Zehenspitzen durch den Raum.
JAZZY, FUNKY: Anna Reisigl, Bassistin der Gruppe Drehwerk.
„Ascending Mist“ heißt die Nummer. Eine lyrische Ballade, gerade richtig zum Aufwachen. Mal luftig und leicht, mal funky und fett klingen Drehwerk. Abwechslungsreich wie das Wetter an diesem Samstagmorgen. Draußen nieselt es, dann setzt sich die Sonne durch und scheint in die Probenräume im Haus der Musik. Inzwischen haben sich die drei warm gespielt. Felix Heiß ist aufgewacht, greift komplizierte Akkorde. Sein „Jazzy McJazzface“ ist eine coole Uptempo-Nummer, die an Pianistenlegende McCoy Tyner erinnert. Zwischen den Stücken wird heftig diskutiert. „Für Außenstehende klingt das vermutlich wie Streit“, sagen sie, „für uns gehören Austausch und Kritik zum kreativen Prozess.“ Jetzt klatscht Regen gegen die Fensterscheiben. Aus dem fünften Stock schaut man über Innsbruck hinweg direkt ins Gebirge. Fast ein bisschen aufdringlich wirken die Gipfel. Als wollten sie das Gespräch unbedingt auf das Klischee des Alpenländischen lenken. Selbst hier in diesem modernen Gebäude aus Beton, Glas und Keramik.
Lukas Klement, der Drummer des Yvonne Moriel Quartett.
Blasmusik als Ausgangspunkt
„Die Volksmusik gehört bei uns Tirolern einfach dazu“, sagt Felix Heiß, „zumindest als Einstieg.“ Auch er und Drehwerk-Schlagzeuger Schrott haben ihre ersten Schritte bei der Blasmusik getan. Die Blaskapellen sind einer der Pfeiler der exzellenten Tiroler Musikausbildung, die staatlich geförderten Musikschulen ein anderer. „Klar sind das Gründe, warum es in Tirol so viele gute Instrumentalisten gibt“, vermutet Reisigl. Kein Wunder, dass die meisten unter ihnen in ganz verschiedenen Genres unterwegs sind. Kaum ein Jazzmusiker, der nicht auch mal Zwiefachen, Marschmusik oder Klassik gespielt hat oder als Nebenprojekt bei einer Latin- oder Indierockband mitwirkt.
Das Treibhaus ist der wichtigste Jazzclub in Tirol.
„In Tirol haben wir viele kreative Einzelköpfe, originelle Besetzungen und spannende Mischformen“, sagt Saxofonist Florian Bramböck, Urgestein des österreichischen Jazz, Lehrer am Landeskonservatorium und Mitglied unzähliger Bands. Er ist selbst ein gutes Beispiel für einen breit aufgestellten Musiker. „Gestern war ich in Meran, weil sie da ein Konzert von mir uraufgeführt haben“, erzählt er und grinst: „Ein depressives und trauriges Stück für Streicher.“ Bramböck hat drei Opern komponiert, Kirchen-, Blas- und Kammermusik, Konzerte für Symphonieorchester und Soloinstrumente. Heute tritt er in Kufstein mit dem Rupert Kirchmair Quintett auf. „Der Jazz ist für mich Nährboden“, sagt Bramböck. „Wenn ich mehrere Tage nicht improvisieren kann, werde ich unruhig“.
GROOVY, GROOVY Rupert Kirchmair am Flügel in Kufstein.
Eine Prise Klassik noch dazu
Auf der Bühne sprudelt die Spiellust aus dem Saxofonisten heraus, als hätte man eine Sektflasche entkorkt. Nichts Strapaziöses bekommen die Kufsteiner zu hören, sondern quicklebendigen europäischen Jazz. Anspruchsvoll, virtuos und trotzdem unterhaltsam. Und eine Prise Klassik ist auch dabei: Ein Stück ist von Béla Bartók inspiriert, ein anderes von Gustav Mahler. Man spürt die langjährige Verbundenheit zwischen diesen Musikern. Sie kennen sich so gut, dass jeder noch so schwierige Ball angenommen und weitergespielt wird. Am Schlagzeug sitzt Flo Baumgartner, der mit seiner Retro-Swingband Flo’s Jazz Casino schon viele große Hallen gefüllt hat. Außerdem ist er Teil des Grammophon Acoustic Project, des Bernd Haas Trios und diverser anderer Gruppen. „Es muss bunt bleiben“, sagt Baumgartner: „Ich könnte mir nicht vorstellen, immer nur mit einer Band zu spielen.“
Der Schlagzeuger Flo Baumgartner, hier mit dem Rupert Kirchmair Quintett.
Zum Glück sei die Tiroler Szene von Offenheit und Spielfreude geprägt statt von Konkurrenzdenken oder Dünkel, sagt auch Bandleader Rupert Kirchmair. Er habe gestern in einer Afro-Latin-Band gespielt und arbeite in der Wintersaison häufig als Pianist in Luxushotels. „Es macht mir Spaß, für die Gäste schöne Klangteppiche auszurollen.“ Trotz der lebendigen Jazzszene zieht es die meisten jungen Musiker früher oder später in die Metropolen. „Wer Feuer gefangen hat“, sagt Saxofonistin Yvonne Moriel, „muss Tirol zumindest zeitweise verlassen.“
Die Bandleaderin Yvonne Moriel am Saxofon im Treibhaus.
Nach wie vor gebe es in Innsbruck trotz vieler großartiger Dozenten nur einen Jazzlehrgang, kein vollwertiges Studium. Moriel und die anderen Drehwerk-Mitglieder haben ihren Lebensmittelpunkt deshalb in Wien. In ihrer alten Heimat spielt sie trotzdem gern und regelmäßig. Heute Abend beispielsweise im Treibhaus, der wichtigsten Anlaufstelle für Jazzfans in Tirol. In dem legendären Club in der Innsbrucker Altstadt traten schon Charlie Haden und Joe Zawinul auf, John McLaughlin und Avishai Cohen. Treibhaus-Gründer und -Betreiber Norbert Pleifer kann stundenlang von seinen Begegnungen mit großen Künstlern berichten. Vom exzentrischen Bandleader Sun Ra, der sich im Turm des Clubs den Sternen nahe fühlte und vor dem Konzert noch schnell eine kosmische Komposition schreiben musste, oder vom viel zu früh verstorbenen Jazzer, Komponisten und Dichter Werner Pirchner, der mit seiner Platte „Ein halbes Doppelalbum“ die Tiroler Volksmusik verhackstückte und zum „Guru der aufmüpfigen Jugend“ wurde.
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Und plötzlich: Westcoastbeats
Das Yvonne Moriel Quartett tritt an diesem Abend im Treibhaus-Café auf, seinem „Wohnzimmer“, wie er den Club nennt. Auf einem der Lautsprecher brennen Kerzen. Durch die hohen Fenster kann man den Neuschnee auf der Nordkette erahnen. „Verdammt, ist das plötzlich kalt geworden“, sagt Yvonne Moriel und zieht sich vorsichtshalber einen Mantel über. Dem Ton ihres Saxofons tut es keinen Abbruch.
Es ist catchy, was die Band von Moriel da spielt, funky und melodiös. Das Keyboard lässig, E-Bass und Drums tight wie eine Laufhose. Klingt eher nach amerikanischer Westküste als nach Patscherkofel. Klingt als wäre die 28-Jährige zwischen Wolkenkratzern groß geworden. „Ich habe meine Kindheit und Jugend in einem kleinen Dorf oberhalb des Inntals verbracht“, erzählt Yvonne Moriel später, „zwischen Kühen und dichten Wäldern.“ Mit dem Jazz kam sie durch ihren Saxofonlehrer Romed Hopfgartner in Berührung. Nachdem dieser nach Wien gezogen war, konzentrierte sich die junge Frau auf die Klassik. Erst als ein Freund sie regelmäßig auf Jamsessions nach Innsbruck mitschleppte, folgte sie dem Drang, etwas von ihrer eigenen Impulsivität in die Musik einzubringen. „Beim Jammen musst du dich ausprobieren, Risiken eingehen“, sagt Moriel. Ihre Risikobereitschaft bewies die junge Saxofonistin, als sie kurze Zeit später nach Wien zog, um dort Jazz zu studieren. Nebenbei schloss sie ihr Medizinstudium ab und spielte in verschiedensten Formationen. Heute ist Yvonne Moriel Profimusikerin und Bandleaderin. „Es ist nicht immer einfach“, sagt sie: „Gerade als Frau darfst du dir in dieser Szene keine Schwächen leisten.“ Aber an Mut mangelt es Moriel nicht. Und jetzt knöpft sie erst mal den Mantel zu und zählt die nächste Nummer ein. „Reality“ heißt die und klingt ziemlich gut gelaunt.