Ganz normal
Fotos: Tanja Kernweiss
Die Sonderschule hat die Gemeinde Reutte schon abgeschafft. Aber wie finden Menschen mit Behinderung auch eine gute Arbeit?
Daniel Wild arbeitet in einer Tankstelle in Reutte und gilt als Musterbeispiel für gelungene Inklusion.
Angela Woldrich arbeitet daran, arbeitslos zu werden. Sich überflüssig zu machen. Nicht, weil sie der Arbeit überdrüssig wäre, nein, die macht ihr Spaß. Woldrich sagt: „Ich glaube, dass ich tatsächlich die Chance habe, etwas zu bewirken.“
Woldrich, Jahrgang 1965, ist Erziehungswissenschaftlerin und trägt eine für ihren Berufsstand typische Uniform: pinke Strähnen im Haar, ein locker um den Hals geschlungenes Tuch. Außerdem ist Woldrich Pressesprecherin in eigener Sache. Besucher bekommen eine eigens vorbereitete Powerpoint-Präsentation zu sehen, vor ein paar Monaten wurde sie zum Beispiel Österreichs Bildungsministerin gezeigt, auch in diesem Besprechungsraum. Der sieht aus, wie Besprechungsräume überall aussehen: Leinwand, Tisch, Stühle. Durch die bodentiefen Fenster schauen Besucher auf den Thaneller, dessen obere Hänge Schnee tragen. Auch das passt zu Woldrichs Arbeit. Die spielt sich zwar häufig in diesem Konferenzraum ab, aber eigentlich geht es um das Leben da draußen. Genauer: um das Zusammenleben. Um das Auf und Ab dabei und die Gratwanderungen, die es zu bewältigen gilt.
ANGELA WOLDRICH stammt ursprünglich aus Bochum, studierte Erziehungswissenschaft in Innsbruck und blieb anschließend in Tirol. Seit 2010 ist Woldrich Geschäftsführerin von Vianova. Auf dem Bild stehen links und rechts von ihr die beiden pädagogischen Leiter des Vereins Ruth Vogler und Bernd Drexel. Insgesamt hat der Verein 40 Mitarbeiter – von Psychologen über Sozialpädagogen bis zu Erziehern.
Woldrich klickt weiter zur entscheidenden Folie, liest vor. „Unsere Vision ist eine inklusive Gesellschaft, in der starr gewordene gesellschaftliche Rahmenbedingungen verändert werden.“ Dann schaut sie weg vom Bildschirm, nicht wegen des Thanellers, sondern weil ihr dieser Punkt wichtig ist. Sie sagt: „Nicht Menschen mit Behinderung müssen sich an die Gesellschaft anpassen. Die Rahmenbedingungen der Gesellschaft müssen angepasst werden, damit Teilhabe möglich ist.“ Solange das nicht passiert ist, müssen Woldrich und ihr Elternverein Vianova weitermachen. Auch wenn es nicht allen passt.
Die Rahmenbedingungen der Gesellschaft müssen angepasst werden.“ Angela Woldrich
Kaum ein Thema spaltet so sehr wie Inklusion und Integration. Die einen nennen ideologisch verbohrt, was seit Jahren in Reutte passiert. Anderen gilt der Bezirk als Vorbild. Als eine Art dauerhaftes Freiluftlabor, das im Kleinen gesellschaftliche Probleme bespricht – und versucht, Lösungen zu finden. Für welche der beiden Sichtweisen man sich auch entscheidet, am Schluss landet man immer bei Vianova, lateinisch für „neuer Weg“. Der Name klingt wahlweise provokant oder notwendig. Provokant, weil er den Status quo in Frage stellt. Notwendig, weil eine typische Karriere von Menschen mit Behinderung oder Lernschwäche häufig so aussieht: Sonderschule, mit Glück ein Abschluss, dann – je nach Handicap – arbeitslos oder Behindertenwerkstatt. Außer vielleicht, sie leben in Reutte. Dort, wo auf Drängen Vianovas erst die Sonderschule abgeschafft wurde. Und der Verein jetzt versucht, möglichst vielen Menschen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt zu verschaffen. Menschen, auf die der Arbeitsmarkt nicht gewartet hat, geschweige denn vorbereitet ist. Woldrich ist die Geschäftsführerin von Vianova, Chefin von rund 40 Mitarbeitern. Der Verein betreut derzeit 70 Klienten, wie sie ihre Schützlinge nennen. Schwerbehinderte sind dabei, Kinder mit Lernschwäche oder aus einem schwierigen Elternhaus. Manche sind nur für ein paar Monate da, dann ist der Job von Vianova erledigt. Andere sind Langzeitfälle.
Daniel Wild zog mit seinen Eltern nach Reutte, weil er in Bayern nicht die Grundschule besuchen durfte. Das wollten die Wilds nicht hinnehmen. In Reutte bekam Wild nicht nur eine optimale Ausbildung, sondern auch einen Job.
Seinen Personalausweis trägt Daniel Wild mit viel Stolz. Wild arbeitet jeden Tag von acht Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags im Supermarkt in Reutte und kümmert sich dort vor allem um das Recycling.
Raus aus dem Büro, runter in die Tiefgarage, rein in Woldrichs Van. Die Sache mit Visionen ist ja, dass man sie leicht mit Halluzinationen verwechselt. Visionen sind konkreter, Visionen haben eine Adresse und ein Gesicht. Woldrich steuert eine Tankstelle an, das dauert keine zehn Minuten. Rund 3.600 Menschen leben in der Stadt Reutte, 31.000 im gleichnamigen Bezirk, der im Nordwesten Tirols liegt. Die Landschaft wirkt oft urtümlich, sie ist touristisch vergleichsweise wenig erschlossen. Steile Berge schneiden sie vom Rest des Landes ab. Ein kleines Idyll, in vieler Hinsicht. Auch der Reuttener Dialekt ist eigen, in ihm vereinen sich Schwäbisch und Tirolerisch. Reuttener zu sein, das ist selbst in Tirol mit seinen vielen Tälern und lokalen Traditionen eine Art Sonderstatus; und vielleicht ist das auch der Grund, warum sie sich ausgerechnet hier getraut haben, einen Sonderstatus einfach abzuschaffen.
Die Vision hat schwarze Haare und ist schmächtig. Daniel Sonnweber, Mitte 20, arbeitet seit Januar 2013 an der Tankstelle. Fünf Tage in der Woche, immer von acht bis zwölf. Ein sogenanntes Musterbeispiel, wie sich Befürworter Inklusion und Integration vorstellen. Bei Daniels Geburt wurde sein Gehirn einige Minuten lang nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Das führte zu einer Lernentwicklungsstörung. Daniel braucht für viele Dinge länger. Neue Arbeitsabläufe kann er sich nur mühsam aneignen, mit Zahlen hat er Probleme.
Eigentlich ein klassischer Fall für die Sonderschule, aber die gibt es in Reutte nicht mehr. Also besuchte er eine Regelschule. Dort wurde er nach dem Lehrplan der Sonderschule in einer integrativen Klasse unterrichtet. Zum Abschied malten die Schulkameraden Daniel ein Bild, darauf steht: „Wir wünschen dir, dass sich deine Wünsche und Träume erfüllen.“ Im letzten Schuljahr organisierte Vianova Schnupperpraktika für ihn, half ihm bei der Zukunftsplanung und der Suche nach einem Arbeitsplatz. An der Tankstelle verrichtet Daniel einfache Arbeiten, putzt zum Beispiel Toiletten und Regale, sammelt Zigarettenkippen auf dem Hof ein. Am liebsten, sagt er, mähe er den Rasen vor der Tankstelle.
DANIEL SONNWEBER sitzt auch in seiner Freizeit nicht gerne auf dem Sofa herum. Unter der Woche nimmt er abends Ballettunterricht, am Freitag geht er ins Tanzcafé in Reutte.
Daniel mit seinem Arbeitsassistent Tom Egger.
Das Rasenmähen gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen von Daniel Sonnweber.
Daniel ist sozialversicherungspflichtig beschäftigt, bekommt ein festes Gehalt und zahlt in die Renten- und Krankenversicherung ein. Anderswo, da sind sie sich bei Vianova sicher, säße er in einer Behindertenwerkstatt und faltete Servietten. Viele Integrationsbefürworter sehen in solchen Werkstätten die letzte aller Lösungen. Für sie geht es darum, Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Sie zu einem sichtbaren Teil der Gesellschaft zu machen, anstatt sie hinter den geschlossenen Türen einer Werkstatt verschwinden zu lassen. Ein Job ist da das beste Mittel. Aber natürlich ist es mit einem Job nicht getan. Daniel arbeitet nicht alleine. Er hat Assistenten, die sich täglich abwechseln und ihn begleiten. Sie holen ihn morgens zu Hause ab, leiten ihn bei der Arbeit an und packen notfalls selbst mit an. Ihr Gehalt wird über ein Förderprogramm namens „Mittendrin“ vom Land Tirol bezahlt, für Daniels Arbeitgeber gibt es einen Lohnzuschuss. Woldrich sagt, die Arbeitsassistenz für Daniel koste nicht mehr als die Unterbringung in einer Behindertenwerkstatt: „Rein vom Geld her ist das ein Nullsummenspiel.“ Kein Nullsummenspiel sei es dagegen für Daniels Lebensgefühl. Heute ist Arbeitsassistent Tom Egger da. Jeans, Pulli, Sneakers, graue Haare an den Schläfen. Er ist offiziell Sozialpädagoge, inoffiziell ein großer Bruder. „Das ist immer die Abwägung“, sagt er. „Was kann Daniel alleine, und wo muss ich ihm helfen?“ Dann muss Tom zur Zapfsäule hinüber und den Rasenmäher auftanken. Mit dem saust Daniel ein paarmal über den Grünstreifen, rennt mit dem vollen Grasbehälter über den Parkplatz zum Abfallcontainer und zurück, mäht wieder, rennt wieder. Gute zwei Stunden braucht Daniel fürs Mähen, die meiste Zeit ist er dabei im Laufschritt unterwegs.
Das Problem mit Musterbeispielen ist: Eine Person zu integrieren, ist einfach. Viele zu integrieren, ist schwierig. Am besten lässt sich das nachvollziehen, wenn man dorthin geht, wo die Sache ihren Anfang nimmt, in die Schule. In ganz Tirol gibt es knapp 52.000 Schüler, rund 1.600 davon werden nach Sonderschullehrplan unterrichtet – entweder direkt an einer Sonderschule oder wie in Reutte an Regelschulen mit integrativen Klassen. Die örtliche Sonderschule wurde vor Jahren stillgelegt. Die De-facto-Abschaffung war eine einmalige Angelegenheit in Tirol, eine seltene in Europa. Nur wenige Länder verzichten komplett auf Sonderschulen, Italien etwa.
Der Mann, der den Stein ins Rollen brachte, redet nicht mehr darüber. Mit Journalisten hat er schlechte Erfahrungen gemacht. Seine mehr als 30-jährige Erfahrung auf dem Gebiet verlange „eine gewisse Vorsicht“, das ist alles, was er mitteilt. Um trotzdem seine Geschichte zu erfahren, muss man in Archiven suchen. Vor knapp 40 Jahren hat sein Sohn, damals sieben Monate alt, einen Unfall. Was genau geschieht, weiß niemand, vielleicht verheddert er sich im Bettzeug, bis er keine Luft mehr bekommt. Sicher ist die Diagnose: Sauerstoffunterversorgung des Gehirns. Die Folgen: spastische Lähmung aller Gliedmaßen, Rollstuhl, ein Pflegefall. Die Ärzte raten, den Sohn in ein Heim zu geben. Das nächste ist 100 Kilometer entfernt, dort schreit der Sohn ständig, will zurück nach Hause. Doch in Reutte weigern sich Behörden und Regelschulen, ihn aufzunehmen, wimmeln den Vater immer wieder ab. In der Hoffnung, mehr Stärke für sein Anliegen zu entwickeln, gründet der Vater Vianova – und trifft einen Nerv. Zum ersten Treffen kommen fast 80 Leute. Was die Eltern eint: Sie alle wollen, dass ihre Kinder möglichst normal aufwachsen. Der Anfang ist am schwierigsten. Der ersten Integrationsklasse, die Vianova schließlich juristisch durchficht, verweigert die Schulbehörde sogar ein Klassenzimmer. Der Unterricht muss in einem Zelt stattfinden.
Auch heute noch wird das Modell in ganz Österreich heiß diskutiert. Kritiker monieren, dass unter dem gemeinsamen Unterricht letztlich sowohl behinderte als auch nicht behinderte Kinder leiden, es gäbe einfach nicht genug Lehrer für eine angemessene Betreuung. Die Befürworter sagen, dass der Staat eben für die Inklusion mehr Geld ausgeben müsse. Tatsächlich verweisen Studien darauf, dass das Selbstwertgefühl von Kindern mit Förderbedarf an einer Regelschule höher sei als an einer Sonderschule: Sie fühlten sich mehr einbezogen. Außerdem gibt es Hinweise, dass ihr Intelligenzquotient durch den gemeinsamen Unterricht steigt. Auf die anderen Kinder nimmt integrativer Unterricht wohl kaum Einfluss. Denkbar scheint aber, dass sie später weniger Berührungsängste gegenüber Menschen mit Behinderung haben.
Wir wollen unserern Klienten in Lohn und Brot bringen.“ Angela Woldrich
Sicher ist: Vielen Inklusionsmodellen fehlt eine Idee, wie es mit den Betroffenen nach ihrem Schulabschluss weitergehen soll. Weil in Reutte mit der Inklusion der erste Teil erledigt ist, konzentriert sich Vianova heute auf den zweiten. „Wir wollen unsere Klienten in Lohn und Brot bringen, auch damit sie im Rentenalter abgesichert sind“, sagt Woldrich.
Ob diese Menschen eine diagnostizierte Behinderung haben oder Schwierigkeiten mit dem Lernen – egal. „Es ist schwer, da eine Grenze zu ziehen“, sagt Woldrich. Wenn Woldrich eine Integrations- Idealistin ist, dann ist René Schweißgut ein Pragmatiker. Schweißgut ist Wirt im Goldenen Lamm, er wirkt zurückhaltend und bodenständig, spricht leise, fast brummend. Von ihm ist keine Schönfärberei zu erwarten. Sein Gasthof liegt in Weißenbach am Lech, dort stoßen Tannheimer Tal und Lechtal zusammen. Nach Reutte sind es mit dem Auto zwanzig Minuten. Vorne ist das Goldene Lamm ein Wirtshaus, viel Holz, ein Tresen, gutbürgerliche Küche, hinten ein Hotel mit siebzehn Zimmern. Hochsaison herrscht im Sommer, wenn die Wanderer und Hangsegler kommen.
Dreizehn Angestellte arbeiten im Goldenen Lamm, darunter Azubis, die sich in einer integrativen Maßnahme befinden. „Das ist eigentlich aus der Not heraus geboren“, sagt Schweißgut, in der Gastronomie seien neue Fachkräfte schwer zu bekommen. Behindert, so wie viele Menschen das Wort verstehen, sind seine Azubis nicht. Die meisten sind lernschwach, wurden zwar an einer Regelschule unterrichtet, aber nach Sonderschullehrplan. Entweder absolvieren sie bei Schweißgut eine um ein Jahr verlängerte Ausbildung in der Gastronomie – oder eine Teilqualifikation. Keinen richtigen Abschluss, sondern ein Zertifikat, dass sie einfachere Tätigkeiten wie Servieren oder Anrichten selbstständig ausführen können. „Es ist oft schwierig“, sagt Schweißgut, er müsse auf seine integrativen Azubis stärker Rücksicht nehmen: Viele seien nicht belastbar, zum Beispiel weinte eine Auszubildende den ganzen ersten Arbeitstag lang. Manche hätten Probleme, mit Menschen zu sprechen, ihnen in die Augen zu schauen oder zu antworten. Stattdessen drehten sie sich um und gingen weg.
VANESSA STRIGL absolviert im Goldenen Lamm in Weißenbach eine Gastronomie-Ausbildung. Dabei ist sie abwechselnd für acht Wochen in der Berufsschule, dann wieder für mehrere Monate in der Gastwirtschaft. Weil Strigl lernschwach ist, dauert die Ausbildung drei statt zwei Jahre.
Eindecken, beraten, servieren, abräumen. Im Goldenen Lamm lernen die Azubis alles, was zu einem guten Service gehört.
Solche Situationen führen immer wieder dazu, dass sich Gäste bei Schweißgut über vermeintlich unfreundliches Personal beschweren. Der muss dann erst mal auf- und erklären. Dass seine Leute nicht unfreundlich seien, sondern Schwierigkeiten hätten. Dass sie sich bemühten, auch wenn es vielleicht auf den ersten Blick nicht so aussehe. „Wenn die Gäste das wissen, tut es den meisten wieder leid“, sagt Schweißgut. Er habe schon überlegt, ein Schild im Eingangsbereich aufzuhängen: „Wir beschäftigen Auszubildende in einer integrativen Maßnahme“ oder dergleichen. „Damit die Gäste gleich Bescheid wissen.“
In Reutte fährt Angela Woldrich wieder in die Tiefgarage. Raus aus dem Van, zurück in die Vianova-Geschäftsstelle im ersten Stock. Um das nach allen Seiten hin offene Sekretariat gruppieren sich Büros, Konferenzraum und Küche. Eigentlich ist es Vianova hier drin längst zu klein geworden, aber bessere Zimmer haben sie bislang nicht gefunden. Auf Woldrichs Schreibtisch wartet Papierkram. Die Maßnahmen aller Klienten müssen genau dokumentiert und an die zuständigen Behörden geschickt werden, sonst bleibt womöglich ein Förderbescheid aus. Angela Woldrich kennt die Kritiken am Reuttener Modell, deshalb überlegt sie, ob und wie sie die Arbeit von Vianova nach wissenschaftlichen Standards evaluieren könnte. Noch gibt es wenige Studien zu dem Thema. Die sind aber wichtig, um dem Verein stärkere Argumente zu verschaffen und die eigene Vision voranzutreiben. „Mit Behinderung, Inklusion, Integration – damit beschäftigen sich viele Menschen erst, wenn es sie persönlich betrifft“, sagt Woldrich.
Klingt, als ob noch viel Arbeit wartet.