Ich sehe was, was du nicht siehst
Das Besondere ist eine Frage der Perspektive. Erscheint uns ein Anblick von Kindheit an vertraut, halten wir nur selten inne, um uns darüber zu wundern. Was aber passiert, wenn man einen Fotografen losschickt, der noch nie in Tirol war? Können wir von ihm lernen, unsere Lieblingsorte wieder mit offenen Augen zu betrachten?
Fotograf Espen über das Motiv: „Als Fotograf bin ich häufig allein unterwegs. Vielleicht fotografiere ich auch deshalb gerne Menschen. An dem Tag, an dem dieses Bild in Vals entstand, bin ich allerdings fast niemandem begegnet. Auf der Suche nach einem guten Motiv fuhr ich von Seitental zu Seitental, aber die Gegend war menschenleer. Ich hielt einigermaßen frustriert an, um mir eine kleine Herde Ziegen anzusehen. Als ich zum Auto zurückging, schaute mich plötzlich dieser Polizist an. Stumm und stoisch. Endlich ein Mensch! Auch wenn er nur aus Pappe war. Das Porträt, das ich von ihm gemacht habe, war dann tatsächlich der Startschuss für weitere gute Bilder in dem Tal.“
Das Abenteuer vor der eigenen Haustüre zu suchen, ist leichter gesagt als getan. Alltag und Routine sind mächtige Gegner, wenn es darum geht, Vertrautes neu zu entdecken. Doch es gibt einen zuverlässigen Trick, wie man das Staunen wieder lernen kann.
Eine Schneeflocke, die wie aus dem Nichts erscheint und als perfekt geformtes Kristall eine Sekunde auf der Nasenspitze verweilt, bevor sie schmilzt. Wassermoleküle im Nebel, die sich durch die Strahlen der Morgensonne in einen goldenen Vorhang verwandeln und den dunklen Bergwald einhüllen. Eine Kuh, die mit ihren tiefen Augen den Bauern anblickt und an seiner Körpersprache erkennt, wohin sie laufen soll.
Kleine Momente der Vollkommenheit, die uns zum Staunen bringen müssten – von Menschen, die das Glück haben, viel Zeit in Tirol zu verbringen, meist aber übersehen werden.
Fotograf Espen über das Motiv: „Ich lebe in der Großstadt und hier sind die Räume sehr klar definiert: Straßen zum Beispiel sind für Autos da. Die Hühner und Enten hier im Ötztal sehen das offenbar anders als ich Stadtmensch. Das war tatsächlich der Grund, weshalb ich überhaupt angehalten habe. Denn die Vögel ließen sich von meinem Wagen kein bisschen beeindrucken und blieben einfach stehen. Als ich ausstieg, um sie zu fotografieren, kam auch noch eine Gans und attackierte mich. Ich flüchtete ins Auto, bis die Gans das Interesse verlor. Aber als ich wieder ausstieg, um weitere Fotos zu machen, kam sie prompt zurück. Das Spielchen wiederholten wir, bis ich aufgab und mich mit den Bildern davonmachte, die ich bis dahin ergattern konnte.“
Fotograf Espen über das Motiv: „Für mich, der ich noch nie in Tirol gewesen war, waren viele Orte hier sehr exotisch – und nirgendwo war dieses Gefühl so ausgeprägt wie im Kloster Zams. Da war zum einen die Landschaft mit ihren steilen Berghängen. In Norwegen, wo ich geboren bin, gibt es zwar auch Berge, aber dort sind sie viel runder und weniger hoch. Noch erstaunlicher war aber die klösterliche Landwirtschaft. Ich wusste gar nicht, dass so etwas existiert. Die Nonne auf dem Bild ist selbst auf einem Hof aufgewachsen und ihr liebevoller Umgang mit den Tieren war schön anzusehen. Ich hatte sofort das Gefühl: An diesem Ort herrscht eine gute Atmosphäre.“
Es ist ein so bedauernswerter wie normaler Teil des Erwachsenwerdens, dass man das Staunen verlernt. Neurowissenschaftler sprechen davon, dass sich das Gehirn „Resonanzroutinen“ zurechtlegt, um nicht ständig überfordert zu sein. Schließlich wollen die Kinder in die Schule und das Auto in die Werkstatt gebracht werden – da bleibt wenig Zeit, um mit ungläubig geöffnetem Mund die Krumenstruktur der Brotscheibe auf dem Frühstücksteller zu untersuchen. Aber es sind nicht nur die Anforderungen und Gewohnheiten des Alltags, die uns vom Staunen abhalten. Noch nie waren wir einer solchen Fülle von Bildern, Videos und Nachrichten ausgesetzt. Die Folge: Wir sind zwar besser informiert, geübt darin, Sachverhalte einzuordnen und Zusammenhänge herzustellen. Gleichzeitig sind wir dem Neuen gegenüber abgestumpfter, lassen uns weniger von sinnlichen Erfahrungen überraschen und, ja, auch überwältigen.
Fotograf Espen über das Motiv: „Dieser rätselhafte Block aus Eis in Schmirn hat mich sofort fasziniert. Warum steht er dort? Wer hat ihn gemacht? Wurde er für die Touristen angefertigt? Steckt die Gemeinde dahinter? Oder ein Künstler? Auf der Suche nach Antworten bin ich ein paarmal um ihn herumgelaufen. Zwei Grüppchen schauten sich das Ding ähnlich interessiert an wie ich. Aber als ich sie ansprach, stellte sich heraus, dass sie ebenfalls Touristen und genauso ratlos waren. Ich habe bis heute nicht herausgefunden, warum der Block dort war.““
Fotograf Espen über das Motiv: „Was mich auf meiner Reise durch Tirol die ganze Zeit begeistert hat: Das schöne Holz, das hier verbaut wird. Den Farbton hatte ich so noch nie gesehen. Ich weiß nicht, ob er auf eine besondere Baumsorte zurückgeht oder das Holz aufgrund der die klimatischen Bedingungen verfärbt. Jedenfalls fand ich das Holz hier so schön, dass ich es ständig fotografiert habe. Bei dieser Stalltür im Ötztal hat mich die Anordnung der Elemente fasziniert. Eine unfreiwillige Komposition, die fast schon gezielt wirkt, ja eigentlich die Bedingungen des goldenen Schnitts erfüllt. In Berlin geht man für so etwas auf die Kunsthochschule, aber ein Landwirt in Tirol kann das offenbar auch so.“
Ob es das diffuse Leuchten der Milchstraße ist oder das Bergpanorama, das wie gefaltet vor uns liegt: Obwohl wir kaum dazu imstande sind, uns diese wundersamen Phänomene aus dem Stand heraus zu erklären, wissen wir insgeheim doch, dass die Wissenschaft es kann. Doch wer hinter jedem Rätsel nur eine Frage für die Suchmaschine sieht, lässt sich schwer verzaubern. Ins Staunen gerät, wer nicht alles von vornherein einordnen, abheften und verstehen will. Dabei suchen wir Momente der Ehrfurcht. Die Sehnsucht nach dem Gefühl, von einem Anblick überwältigt zu werden, lässt uns vieles in Kauf nehmen: schweißtreibende Gipfeltouren, Schlangen an Liftkassen, Flugzeugsitze. Aber es kann sich lohnen. Denn: Wer staunt, verharrt im Moment, entkommt dem Alltagstrott und gibt sich einem wunderbaren Gefühl von Entrücktheit hin. Schon Goethe stellte fest, dass das Staunen das Höchste sei, wozu der Mensch gelangen kann, und für Platon war es gar der Ursprung jeder Philosophie. Denn erst die Auseinandersetzung mit dem Unerwarteten sorge für das Streben nach Wissen.
Fotograf Espen über das Motiv: „Am Anfang meiner Reise bin ich direkt in eine Sackgasse gefahren. Das Tal, in das ich wollte, war wegen Lawinengefahr gesperrt. Ich war erst genervt, weil ich nicht weiterkam. Mit Lawinen hatte ich bisher keinerlei Berührung gehabt und immer gedacht, dass sie sowieso fast nie vorkommen. Doch mit der Zeit habe ich verstanden, wie allgegenwärtig sie in Tirol sind. Dabei hat mir auch dieser Mann im Kaunertal geholfen, der mir sehr bereitwillig meine vielen Fragen beantwortet hat. Jetzt kenne ich nicht nur den Unterschied zwischen Lockerschnee- und Staublawine, sondern habe auch verstanden, wie routiniert die Menschen hier damit in ihrem Alltag umgehen.“
Fotograf Espen über das Motiv: „Als visuell denkender Mensch bin ich mit einer gewissen Vorbelastung in der Welt unterwegs: Auch von Orten, an denen ich noch nie gewesen bin, habe ich bereits Bilder im Kopf. Die Idealvorstellung von schneebedeckten Bergen zählt auch dazu. Für mich entsteht dadurch ein Zwiespalt: Einerseits möchte ich kein Foto machen, das es bereits milliardenfach in ähnlicher Weise gibt. Andererseits aber doch, weil ich so fasziniert davon bin, dass diese Bergwelt nicht nur ein Postkartenmotiv ist, sondern wirklich existiert. Als ich hier durch den Schnee gestapft bin und der Olperer auf einmal in diesem tollen Licht über dem Valser Tal leuchtete, fand ich die Schönheit so betörend, dass es mir egal war, wie oft ein ähnliches Bild womöglich schon existierte. In diesem Moment musste ich das Foto einfach machen.“
Dass uns das Staunen zu besseren Menschen macht, bestätigt mittlerweile auch die moderne Wissenschaft: Psychologen aus den USA haben etwa herausgefunden, dass Menschen, die in Ehrfurcht versetzt werden, hilfsbereiter und kooperativer sind. In einer Studie durfte ein Teil der Probanden unter Mammutbäumen wandeln, während der andere nur ein langweiliges Bürogebäude besuchte. Das Ergebnis: Wer zum Staunen gebracht wurde, war beim anschließenden Aufteilen von Losen großzügiger oder half bereitwilliger mit, scheinbar versehentlich fallen gelassene Schreibutensilien aufzusammeln. Die Begründung für das altruistische Verhalten sehen die Wissenschaftler darin, dass der von Erhabenheit ergriffene Mensch sich selbst weniger wichtig nimmt.
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Wird das eigene Verständnis der Welt erschüttert – und sei es nur für einen Moment – sind wir eher dazu in der Lage, uns als Teil von etwas Größerem zu sehen. Bei Menschen, die ihre Umwelt regelmäßig mit Ehrfurcht betrachten, tritt das sonst so dominierende Ich in den Hintergrund, sie setzen sich stärker für ihre Mitmenschen ein. Es gibt also gute Gründe, um mal wieder ausgiebig zu staunen. Doch der Vorsatz, dem eigenen Alltag mit kindlicher Ungläubigkeit gegenüberzutreten, ist schnell gefasst und nur schwer umgesetzt. Kann man das Staunen wieder lernen?
Fotograf Espen über das Motiv: „Auch wenn es auf den ersten Blick nach dem Gegenteil aussieht: Für mich stehen das Auto und die Beladung auf faszinierende Weise im Gleichgewicht. Derjenige, der die Stämme eingeladen hat, weiß offenbar, wie viel Last er maximal in seine Kiste packen kann, bevor sie zusammenbricht. Diesen Pragmatismus gepaart mit Kenntnisreichtum habe ich, wie hier in Vals, in Tirol immer wieder angetroffen.“
Fotograf Espen über das Motiv: „Versucht das Pferd, Kuh zu sein? Oder ist das Pferd Vorbild für die Kuh? Als ich die beiden betrachtet habe, hatte ich plötzlich den Eindruck, dass sie miteinander verwandt sind, und die Formen-Ähnlichkeit der Tiere hat mich irgendwie angezogen. Ich habe mir den Hof im Paznaun dann ganz genau angesehen, weil ich den Ort so schön fand. Die Tiere und ich, ich und die Tiere. Sonne. Heile Welt. Ich kann nicht genau erklären warum, aber in diesem Moment habe ich die Friedlichkeit, die der Ort verströmt hat, gebraucht.“
Tatsächlich gibt es einen Trick, um das, was naheliegt, wieder neu zu entdecken. Alles, was es dafür braucht: ein wenig Muße und ein frisches Paar Augen, das man sich zum Beispiel von einem Freund ausleiht, der noch nie einen Fuß in die Alpen gesetzt hat – ähnlich wie Espen Eichhöfer, der Fotograf der Bilderstrecke auf diesen Seiten, der die winterliche Bergwelt zwar aus dem heimatlichen Norwegen kennt, aber eben nicht aus Tirol.
Dann lässt man sich gemeinsam treiben, verweilt an den Orten, die für den einen eine Selbstverständlichkeit, für den anderen jedoch völlig fremd sind. Man lässt sich vom sanften Schaukeln des prächtigen Bergahorns hypnotisieren, bewundert das Zusammenspiel der Generationen auf einem Bauernhof und erschrickt über die Kühnheit, mit der die Gamsherde im verschneiten Steilhang nach Essbarem sucht – und ehe man es sich versieht, wird das vielleicht manchmal schon allzu vertraute Tirol wieder zu dem, was es ist: erstaunenswert.