Ice, Ice Baby!
Fotos: Sebastian Schels
Dass man in Tirol im Winter hervorragend Ski fahren und langlaufen kann, ist weltbekannt. Doch es gibt noch andere Möglichkeiten, in den verschneiten Bergen große Abenteuer zu erleben: Eisklettern zum Beispiel. Unser Autor hat es ausprobiert.
In der Ferne höre ich einen lauten Knall. War das etwa das Eis?
Kurz vor meinem ersten Kletterversuch, kurz bevor ich mit zitternden Beinen die Steigeisen in das Eis ramme und nach einem Ziel für die scharfen Spitzen meiner Eisgeräte suche, höre ich in der Nähe einen lauten Knall. War das etwa das Eis? „Gut möglich“, sagt mein Kletterlehrer Michl, kontrolliert die Knoten an meinem Gurt und schiebt mich aufmunternd in Richtung des gefrorenen Wasserfalls. Er scheint nicht sonderlich beunruhigt. „Weiter hinten im Tal bekommt das Eis die pralle Sonne ab. Da kann es schon mal sein, dass sich ein Stück löst.“ Bäm. Ist das ein Startschuss oder ein böses Omen?
Der Kletterspot, den Michael Amraser von den Kalser Bergführern in den Hohen Tauern für uns ausgesucht hat, ist der Sonne zum Glück weniger stark ausgesetzt. Es gab genug Auswahl. Der Eispark Osttirol in Matrei ist der größte Eisklettergarten in Österreich. Sobald im Spätherbst die Temperaturen unter null Grad fallen, dreht man die extra angelegten Wasserleitungen über den Felswänden auf – das Wasser läuft hinab, gefriert und bildet eine dicke Eisschicht. 70 Kletterrouten gibt es im Park – wenig steile Eishügel für Anfänger und gigantische Eistürme, die vertikal in den Himmel wachsen und so hoch sind, dass man mehrere Seillängen benötigt, um sie zu bezwingen. An den Hügeln ist Michl schnurstracks vorbeigesteuert. Obwohl ich absoluter Anfänger bin. Jetzt stehen wir vor einer weiß-türkis schimmernden Wand, die gut zwanzig Meter nach oben geht. Auch in einigen Metern Entfernung spüre ich die Kälte, die die Wand abstrahlt. Aber ich zittere aus anderen Gründen. Die Eiswand wirkt unbezwingbar. Aber jetzt noch einen Rückzieher machen kommt nicht in Frage. Los geht’s.
Konzentration: Mit verzagten Schritten nähert sich unser Autor der Wand im Eispark Osttirol. Sein Lehrer Michael „Michl“ Amraser von den Kalser Bergführern sichert ihn von unten, gibt Tipps und verteilt – noch wichtiger – viel Lob.
Nach fünf Minuten bereue ich die Entscheidung. Ein vorsichtiger Blick nach unten: Verdammt, ist das hoch! Und überhaupt: Wie verlässlich sind die beiden Pickel, die Michl Eisgeräte nennt und die ich in die Wand schlage, und mich dann mit krampfenden Unterarmen nach oben ziehe? Trotz der eisigen Temperaturen schwitze ich. Mein linker Fuß sitzt nicht richtig, ich rutsche ein paar Zentimeter nach unten, und spätestens in diesem Moment frage ich mich: Was zur Hölle mache ich hier?
Eine Schwarze Piste anderer Art
Ein paar Stunden zuvor, kurz nach sieben Uhr, ahnte ich noch nicht, was da auf mich zukommt. Gemeinsam mit den anderen Gästen des Matreier Tauernhauses stand ich am Frühstücksbuffet. An der Kaffeemaschine drehten sich die Gespräche um die beste Abfahrt, den Schnee und darum, auf welcher Hütte es das beste Gröstl gibt. Vertraute Sätze. Wintersportroutine. Ich liebe das Skifahren, die verschneiten Berge: schwarze Pisten, Freeride-Routen, Hüttenabende. Oft habe ich vom Hang aus die gefrorenen Wasserfälle gesehen, die wie Monumentalskulpturen am Hang hängen, wunderschön, abweisend und anziehend zugleich. Und manchmal sah ich Leute dort klettern und fragte mich, wie das wohl ist. Können das nur Superhelden, Eis-Spidermänner und -frauen oder auch Sterbliche, Leute wie ich? Ich will es ausprobieren. Dafür ist der Bergurlaub doch da: Abenteuer erleben.
Als Michl mich am Gasthaus abholt, guckt er sofort auf meine Schuhe. Outdoorstiefel für Stadtmenschen – weiches Leder, weiche Sohle – die ich vor allem deshalb gekauft habe, weil sie so bequem waren. Michl trägt schwere, steife Stiefel, die eine Extrakante haben, an der die Steigeisen fixiert werden. „Naja, wird schon gehen“, sagt Michl.
Ungewöhnliche Wintersportarten
Eishalle, Berg, Fluss: wir stellen euch fünf wirklich coole Alternativen zum Skifahren vor.
Wir beginnen mit einer einfachen Übung: Steigeisentraining. Auf einem kleinen Schneehügel gehen wir auf und ab. Michl erklärt mir, wie ich mit den Steigeisen auftreten muss, damit ich möglichst viel Halt habe: „Immer den ganzen Fuß aufsetzen.“ Es fühlt sich an, als hätte ich Saugnäpfe angeschnallt. Leicht o-beinig stakse ich auf dem Hügel herum, auch die steilsten Abhänge bringen mich nicht ins Rutschen. Allerdings wollen wir ja nicht nur im Schnee spazieren gehen, sondern gefrorene Wasserfälle erklimmen. Möglich machen das zwei Frontzacken, die wie Krallen unter meinen Schuhspitzen hervorschauen und die erst in den 1930er-Jahren erfunden wurden. Zuvor konnten sich Bergsteiger auf Gletschern und Eis nur seitwärts fortbewegen. Ab den 1970er-Jahren wurden Steigeisen industriell gefertigt und für die breite Masse erschwinglich. Eine neue Trendsportart war geboren: das Eisklettern.
In Tirol gibt es viele berühmte Spots für die Szene: die 80 Meter hohen gefrorenen Wasserfälle in der Salvesenklamm bei Imst, die 220 Meter hohen Steinbruch-Eisfälle im Kaunertal – und viele Eiskletterparks. 2014 war Eisklettern sogar Demonstrationswettbewerb bei den Olympischen Spielen in Sotschi.
Zielen, Zuschlagen, Zack!
Das Steigeisentraining macht mir Mut. Ich bin bereit für mehr. Michl erklärt mir, wie ich die Eisgeräte richtig „setze“, also in die Wand schlage: erst zielen, dann mit einem schnellen, entschlossenen Schwung zuschlagen. Doch Michl warnt mich: Eis sei ein lebendiges Material und „an jeder Stelle anders“. Nach Temperaturschwankungen wird es spröde und hält tückische Fallen für Kletterer bereit. Ist viel Luft im Eis eingeschlossen, können beim „Setzen“ der Eisgeräte ganze Brocken abplatzen. Michl klopft hier und da prüfend gegen die Wand. „Das Geräusch zeigt dir, wie das Eis beschaffen ist.“ Er sieht zufrieden aus. Jetzt wage auch ich mich mit den Eisgeräten an die Wand. Zielen, Schwung holen, zuschlagen. Zack. Der erste Schlag sitzt. Ich rüttle am Griff, und obwohl sich die Spitze des Pickels nur einen halben Zentimeter in das Eis gebohrt hat, sitzt sie so fest, dass ich Schwierigkeiten habe, sie wieder herauszuziehen. Einfacher als gedacht, denke ich und wiederhole die Bewegung mit dem linken Arm. Zielen, Schwung holen, zuschlagen. Zack. Die Spitze des Pickels trifft schräg auf das Eis und prallt ab, zwanzig Zentimeter neben der Stelle, die ich eigentlich anvisiert hatte. Zu früh gefreut.
Das Eis ist ein lebendiges Material und an jeder Stelle anders.
Michl erklärt mir die verschiedenen Karabiner an meinem Klettergurt, wie ich das Seil in die Sicherungen hängen muss und was eine Eisschraube ist. Schnell schwirrt mir der Kopf. So viele Informationen: Werde ich mich daran erinnern können, wenn ich da oben hänge? Michl sucht eine Einsteigerroute aus und macht den Vorstieg. Während ich ihn von unten sichere, klettert er mit katzenartiger Eleganz nach oben. Alle zwei Meter bohrt er eine Eisschraube in die Wand und hängt das Seil in den Sicherungskarabiner. Oben angekommen, fixiert er das Seil in eine Umlenkung und seilt sich ab. Nach zehn Minuten steht er wieder neben mir, keine Schweißperle im Gesicht. Ist Eisklettern doch nicht so anstrengend? Nach den ersten Metern in der Wand weiß ich: Doch! Sehr! Die Bewegungen sind ungewohnt. Zuschlagen, hochziehen – schon bald schnaufe ich wie beim Dauerlauf. Aber: Es geht rasch nach oben. Anders als Michl muss ich mich nicht um Eisschrauben kümmern – das Seil läuft über die Umlenkung oben, und Michl sichert mich. Und anders als beim Felsklettern muss ich mir die Griffe nicht suchen, ich schaffe sie mir einfach mit Steigeisen und Eispickel. Als ich in 15 Meter Höhe ankomme, fällt die Anspannung von mir ab. Geschafft. Ohne Sturz. Ich bin so stolz, als hätte ich gerade den Großglockner erklommen. Ich genieße den Ausblick. Ein Bartgeier zieht über mir seine Kreise. Dann gebe ich Michl ein Zeichen, setze mich ins Seil und schwebe nach unten.
Eine Frage der Technik: Mit den Steigeisen und den Eisgeräten kommt unser Autor gut voran in der Wand. Aber hat er genügend Kraft, um bis nach oben zu kommen?
Übermut kommt vor dem…
Als ich wieder auf dem Boden ankomme, bin ich vollgepumpt mit Adrenalin und Glückshormonen und kann es kaum erwarten, die nächste Route anzugehen. Das liegt auch an Michl, der mir die Feinheiten der Technik so ruhig und geduldig erklärt wie ein Yogalehrer. Für jeden Minimalfortschritt lobt er mich – und obwohl ich für dieselbe Route drei Mal so lang gebraucht habe wie er, nennt er meine Eisfall-Premiere „gewaltig“. Die nächste Eiswand, die wir uns vornehmen, ist fünf Meter höher und ein gutes Stück steiler. Ich haue, stoße, kicke und schwinge, was das Zeug hält. Bald bin ich süchtig nach dem Gefühl, den Pickel mit einem dumpfen Schmatzen im Eis zu versenken und mich nach oben zu ziehen. Fast kommt es mir vor, als könnte ich mit meinem Werkzeug jedes Hindernis überwinden. Dabei bemerke ich nicht, wie mich langsam die Kräfte verlassen.
Als ich mich an einer Spalte entlanghangele, ist plötzlich Schluss. Um einen Überhang zu umklettern, muss ich den Eispickel besonders weit entfernt platzieren. Aber ich bin wie gelähmt. Meine Beine zittern, alle Kraft scheint meinen Körper verlassen zu haben. Was jetzt? Runterklettern? Mein Blick wandert zu meinen Füßen, unter mir der Abgrund, gut 15 Meter sind es bis zum Boden. Panik! „Ich kann nicht mehr“, schreie ich. „Keine Angst“, ruft Michl zurück. „Lass dich einfach in das Seil fallen.“ Stimmt. Das Seil. Das hatte ich in meinem verkrampften Kletterwahn ganz vergessen.
Im Eispark Osttirol gibt es mehr als 70 Routen in allen Schwierigkeitsstufen. Die Eisfälle werden künstlich geschaffen.
Aber einfach loslassen? In Zeitlupe löse ich einen Pickel aus der Eiswand und schlage ihn sofort wieder zurück in das Eis. Was, wenn das Seil nicht hält oder sich am Eis durchgescheuert hat? Die Eiskante, hinter der es verschwindet, sieht scharf aus. Aber länger kann ich mich einfach nicht mehr halten. Ich löse die Eispickel. Erst den einen, dann den anderen – und falle nach unten. Eine Sekunde. Eine Ewigkeit. Dann fängt das Seil mich auf, und obwohl ich nur einen halben Meter nach unten gesackt bin, schlägt mir das Herz bis zum Hals. Völlig durchgeschwitzt erreiche ich den Boden. Michl sagt ein letztes Mal „gewaltig“, dann packen wir zusammen und machen uns auf den Rückweg.
Ich kenne das Gefühl, den ganzen Tag am Berg und an der frischen Luft verbracht zu haben, die prickelnde Haut, den angenehmen Schwindel im Kopf und die wackligen Oberschenkel vom Skifahren. Und doch ist alles anders. Ich bin stolz, dass ich meine Angst überwunden habe. Wenn ich die Augen schließe, spüre ich die Kälte der Wand und höre das schmatzende Geräusch, wenn die Eisgeräte in das gefrorene Wasser einschlagen. Zack. Zack. Immer weiter. Immer weiter nach oben. Und das Beste: Ich habe an diesem Tag etwas gelernt, einen neuen Bereich der verschneiten Berge freigeschaltet. Die gefrorenen Wasserfälle sind für mich in Zukunft mehr als ein wunderschöner, gleichzeitig abweisender und anziehender Teil des Winterpanoramas. Sie sind eine neue Möglichkeit. Am Berg gibt es keinen Alltag. Immer wartet das nächste Abenteuer.