Hier geblieben!
Fotos: Jörg Koopmann
Viele Lebenswege führen nach Tirol. Wir haben acht Menschen getroffen, die hier eine neue Heimat gefunden haben.
NAOMI HECHENBLAIKNER, 41, NIEDERLANDE
Obstbäuerin, Lebensmittelproduzentin
Nach der Ausbildung zur Floristin ging ich auf Weltreise. Zumindest war das der Plan. Meine erste Station war Rattenberg bei Kramsach. Dort wollte ich ein paar Wochen in einem Blumengeschäft aushelfen. Aus ein paar Wochen wurden dann Monate und Jahre. Beim Skifahren habe ich Florian kennengelernt. Wir verliebten uns ineinander. Ausgerechnet einen Obstbauern habe ich mir ausgesucht, wo ich doch selbst aus einer Familie stamme, die Äpfel und Birnen anbaut. Flo und ich sind jetzt schon seit 19 Jahren zusammen. Wir haben eine Tochter und den Hof hier in Reith. Er liegt mitten im Wald, was ich toll finde. Aus Florians Beeren, Marillen, Bergkiwis und Kirschen koche ich Marmeladen, Sirups und Ketchups. Unsere Marke Floberry gibt es inzwischen in ganz Tirol zu kaufen. Zum 40. Geburtstag habe ich mir übrigens ein waschechtes „Kasettl“ gewünscht, so ein prächtiges Festtagsgewand, wie es hier im Tiroler Unterland verbreitet ist. Integrierter geht’s nicht mehr, oder?
SANTAN FERNANDES, 62, INDIEN
Priester
Im Wirtshaus bestelle ich immer ein dunkles Bier. Damit ich selbst schön dunkel bleibe. Ich stamme aus dem heutigen Mumbai, aus einer katholischen Familie, mein Vater versorgte die Fischer in den Slums um uns herum mit frischem Wasser. Wir waren nicht reich, aber ich bekam eine ausgezeichnete Ausbildung. Mit 21 ging ich nach München. Sechs Jahre lang arbeitete ich dort in der Visa-Abteilung des indischen Konsulats. Ich war damals viel auf Reisen, und bei einem Besuch im Garten Gethsemane in Jerusalem hörte ich eine Stimme, die mich rief. In den nächsten Monaten dachte ich viel über mich nach und beschloss, mein Leben Gott zu weihen. Zum Studieren ging ich in das Franziskanerkloster in Schwaz. Seit 1993 habe ich die Pfarrei in St. Ulrich am Pillersee. Und natürlich stehe ich stets in enger Verbindung mit Indien. Meine Gemeinschaft, die Apostel der Heiligen Familie, unterstützt Waisenkinder, bedürftige Familien, Alte. Außerdem helfen wir jungen Menschen, die Priester, Ordensbrüder oder Ordensschwestern werden wollen. Es sind auch immer einige von ihnen zum Studieren hier in St. Ulrich.
VLADIMIR JUROVATY, 37, SLOWAKEI
Aushilfe in der Gastronomie
Früher habe ich bei uns in Púchov in einer Chemiefabrik gearbeitet. Das war vielleicht ein Gestank. Und dann die ganzen Schichtdienste. Verdient habe ich trotzdem schlecht. Kein schönes Leben. Im Sommer 2015 hat dann mein Handy geklingelt. Ein Freund von mir war dran, der als Masseur in einem Hotel in Oetz arbeitete: „Vladi, ich habe einen Platz für dich im Skigebiet.“ Ich musste nicht lange nachdenken und hab die Entscheidung auch nie bereut. Klar, auch hier ist die Arbeit hart. Ich räume die Teller von den Tischen und bringe sie zu den Spülmaschinen, im Winter im Skizirkus, im Sommer in der Area 47, dem größten Outdoor-Freizeitpark Österreichs. Ich mache meinen Job immer perfekt. Ich will auf jeden Fall hierbleiben. Schon allein, weil ich mit dem Rennradfahren angefangen habe und jetzt in jeder freien Minute trainiere. Die Gletscherstraße, das Timmelsjoch – es ist einfach perfekt.
ANDREIA KOSTENZER, 36, BRASILIEN
Wirtin
Einen Kulturschock habe ich in Tirol nicht bekommen: In meiner Heimat geht es eigentlich viel österreichischer zu als hier – und unsere Schuhplattler sind auch viel besser. Aufgewachsen bin ich in Dreizehnlinden im Süden Brasiliens. Meine Großeltern gehörten 1933 zu den Gründern der Gemeinde. Zusammen mit vielen anderen Bauern aus der Wildschönau haben sie sich dort ein neues Leben aufgebaut. In Dreizehnlinden wird bis heute Tirolerisch gesprochen, es gibt Tiroler Holzhäuser mit Balkonen, und Frauen im Dirndl sieht man auch oft. Ich habe eine Ausbildung an der Hotelfachschule in Dreizehnlinden gemacht und kam 2001 für ein Praktikum in die Wildschönau. Eigentlich wollte ich nur eine Saison in einem Gastronomiebetrieb arbeiten. Daraus wurden dann zehn. Ich habe mich so wohlgefühlt. Jeder Dritte, mit dem ich gesprochen habe, war ein Verwandter. Und dann lernte ich auch noch Sebastian kennen. Heute leben wir auf dem Hörbighof in Thierbach. Sebastian und ich betreiben die Landwirtschaft und eine Jausenstation. Es fühlt sich für mich ganz selbstverständlich an, hier zu sein. Wenn ich Brasilien vermisse, höre ich einfach Samba.
FABIO D‘AMORE, 31, ITALIEN
Musiker, Produzent, Musiklehrer
Im Jahr 2010 meldete sich Georg Neuhauser bei mir. Er spielt bei Serenity, der wichtigsten Metalband Tirols, und die Gruppe suchte dringend einen neuen Bassisten. Fünf Jahre bin ich zwischen Tirol und dem Friaul gependelt, eine Strecke dauerte vier Stunden. Irgendwann wurde mir das zu anstrengend. Zum Pendeln kamen ja auch noch die Tourneen mit Serenity oder anderen Bands. Im Herbst 2016 zog ich mit Claudia, meiner Tiroler Freundin, zusammen in das Haus ihrer Großeltern. Inzwischen habe ich im Keller ein Aufnahmestudio eingerichtet, damit ich auch hier Bands und Musiker produzieren kann. Ich gebe außerdem Gesangs- und Bassunterricht. Dabei hilft mir, dass ich das absolute Gehör habe. Viele Leute stellen sich unter Metal ja etwas völlig Falsches vor. Unsere Musik ist sehr komplex. Für Improvisation ist da kein Platz. Jede Show läuft exakt gleich ab, und jeder Ton muss genau sitzen. Wir haben gerade einen Amadeus-Award gewonnen, den wohl wichtigsten Musikpreis Österreichs. Wir sind keine Hobbyband, sondern ein gut funktionierendes Unternehmen.
ERIC GINESTET, 52, FRANKREICH
Theaterpädagoge, Schauspiellehrer, Stimm-Coach, Regisseur
Mit Astrid, einer Osttirolerin, habe ich während des Studiums erst in England, dann in Frankreich zusammengelebt. Als sie 1992 nach Lienz zurückging, bewarb ich mich in Österreich. Ich konnte damals kaum einen Satz auf Deutsch bilden, aber wir wollten keine Fernbeziehung. Ich bekam eine Stelle als Fremdsprachenassistent an einer Hotelfachschule in Innsbruck. Mit Astrid ging es übrigens nach ein paar Monaten auseinander. Aber ich bin einfach dageblieben. Das hatte sicherlich auch mit den Job-Möglichkeiten zu tun, die sich hier für mich ergaben. Ich habe als Lektor im Institut für Romanistik gearbeitet, nebenher Theaterpädagogik studiert und in einer Schauspielschule gearbeitet. Inzwischen habe ich viele Standbeine. Ich bin Stimm-Coach, veranstalte Workshops und unterrichte am Institut für Sozialpädagogik in Stams. 2004 habe ich das Westbahntheater mitgegründet, 2014 dann die Playback- Theatertruppe „endorphine“. Ich schreibe Chansons, führe Regie und spiele natürlich auch selber. Frankreich vermisse ich nicht. Tirol ist längst mein Zuhause.
BA MAMADOU, 35, SENEGAL
Künstler
Wie ich nach Innsbruck gekommen bin? Das ist eine lange Geschichte. 2008 habe ich bei einem Künstlerwettbewerb in Monaco den zweiten Preis gewonnen. In der Folge ergab sich die Möglichkeit, in Wien bei einem Künstler aus dem Senegal zu arbeiten. Irgendwann war mir Wien dann aber zu groß und zu laut, also zog ich nach Innsbruck. Für einen Künstler wie mich ist das eine sehr gute Stadt. Ich gehe gern in die Berge, um zu zeichnen. In meiner Kunst kombiniere ich Malerei mit Recyclingmaterialien, etwa mit Kronkorken, Kochtöpfen, Tierfell oder Teer. Ich hatte schon einige Ausstellungen, im Institut Français in Innsbruck zum Beispiel, im Mesnerhaus in Mieming und in der Tschett Feuergalerie in Imst. Es ist nicht immer leicht, genug Geld zum Leben zu verdienen, und manchmal muss ich auch weghören, wenn auf der Straße dumme Kommentare über meine Hautfarbe gemacht werden. Aber ich bin ein Kämpfer. Und ich will durchhalten und Innsbruck meinen Stempel aufdrücken.
ÁGNES CZINGULSZKI, 30, UNGARN
Journalistin, Schriftstellerin
Nach Innsbruck kam ich zum ersten Mal als Touristin. Ich wollte die Alpen sehen. Die waren aber komplett in den Wolken. In einer Bar habe ich dann einen hübschen Argentinier kennengelernt, der fuhr hier den ganzen Tag Ski. Heute bin ich nicht mehr mit dem Argentinier zusammen, aber ich bin ihm dankbar, dass er mich nach Innsbruck gebracht hat. In Budapest sah es für mich nicht so gut aus, mit der regierungskritischen Zeitung, für die ich arbeitete, ging es bergab. Also beschloss ich, hier den Neuanfang zu wagen. Anfangs habe ich in Restaurants und Wettbüros gejobbt und mich gleichzeitig um eine Stelle als Journalistin beworben. Schließlich hatte ich Erfolg. Seit vier Jahren arbeite ich als Reporterin bei verschiedenen Bezirksblättern. Nebenher schreibe ich Erzählungen. Für meinen ersten Erzählband „ich dachte an siracusa“ habe ich mehrere Preise bekommen, unter anderem den Exil-Literaturpreis. Ich schreibe melancholische Alltagsgeschichten. Meine Freunde finden meine Texte oft deprimierend und wundern sich. „Ausgerechnet du“, sagen sie, „du bist doch die fröhliche Ágnes!“
Eine(r) von 757.000
Diese acht Menschen haben in Tirol eine neue Heimat gefunden. Weitere spannende Geschichten über Wahltiroler könnt ihr in unserer Serie „Eine(r) von 757.000“ lesen.