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Marius Buhl

Große Freiheit

Aktualisiert am 07.11.2022 in Magazin, Fotos: Fritz Beck

Wictor Granström (mit bunter Brille) und Castanja Kilpatrick (2.v.r.) chillen mit ihren Ski-Bum-Freunden.Wictor Granström (mit bunter Brille) und Castanja Kilpatrick (2.v.r.) chillen mit ihren Ski-Bum-Freunden.

Ski-Bums sind die Hippies des Winters: junge, ungebundene Menschen, die im Skigebiet leben und dort Gelegenheitsjobs verrichten, um jeden Tag auf der Piste zu stehen. Doch das jahrzehntealte Lebensmodell ist bedroht, auch in St. Anton. Wird der Ski-Bum überleben?

Drei Bier, sagt Wictor Granström, habe er heute Morgen getrunken. Drei Bier für dreifachen Mut. Was ist jetzt noch ein Rückwärtssalto?

Ein Vormittag im Februar, blauer Himmel über St. Anton, eisklare Luft, als der junge Schwede seine überdimensionierte Sonnenbrille aufsetzt, mit den Stöcken anschiebt und immer schneller auf eine Sprungschanze im stanton park zufährt. „Fuuuck it“, schreit er. Seine Freunde Castanja, Wilma, Linn, Emil, Bjarke und Alfred, alle Anfang 20, sitzen in bunten Skioutfits oben am Funpark-Eingang und lachen und jubeln.

Das Motto von Wictor Granström aus Schweden? „Fuck it, let’s go!“ Tagsüber probiert er neue Tricks im Snowpark aus, ab Liftschluss arbeitet er als Hausmeister im Hotel Rosanna.Das Motto von Wictor Granström aus Schweden? „Fuck it, let’s go!“ Tagsüber probiert er neue Tricks im Snowpark aus, ab Liftschluss arbeitet er als Hausmeister im Hotel Rosanna.

Sie wissen, dass ihr Freund diesen Trick noch nie zuvor gemacht hat: ein Rückwärtssalto, so was übt man normalerweise auf dem Trampolin, vielleicht am Badesee, aber doch nicht auf Ski im präparierten Funpark. Castanja schreit vor Aufregung. Linn drückt ihr die Hand. Alfred kramt das Handy aus der Tasche, damit er „schneller die Bergrettung rufen kann.“ Doch Wictor, der Junge, dem ständig neue Albernheiten einfallen, liefert auch dieses Mal: Er fliegt etwa fünf Meter durch die Luft, schafft es irgendwie, sich über den Kopf nach hinten zu drehen, und verhindert im letzten Moment einen Sturz. Landung auf den Skienden, die Freunde feiern ihn. „Ein echter Ski-Bum“, ruft Castanja.

Big Air? Wictor feiert die 1990er nicht nur mit Schnurrbart und verspiegelter Brille, sondern auch mit gepflegten Retro-Grabs im Funpark.Big Air? Wictor feiert die 1990er nicht nur mit Schnurrbart und verspiegelter Brille, sondern auch mit gepflegten Retro-Grabs im Funpark.

Ski-Bums, so nennen die Freunde aus Skandinavien sich, ein bisschen ironisch, ein bisschen unsicher, als wären sie sich nicht ganz sicher, ob es sich ziemt, diesen mythischen Titel für sich zu beanspruchen. Im Englischen bedeutet „Bum“ so etwas wie Landstreicher oder Rumtreiber, aber nicht abwertend gemeint, eher wohlwollend. Die Definition des Ski-Bum könnte so lauten: ein junger Mensch, der den kompletten Winter in einem Skigebiet lebt, wo er mit einem Gelegenheitsjob als Pizzabote, Barkeeper oder Skiwachser gerade so viel Geld verdient, dass es reicht, um eine Saison-karte und ein Zimmer zu finanzieren – alles mit dem Ziel, in jeder freien Minute Ski zu fahren. Eher abseits als auf den Pisten, eher wild als vernünftig. Und nachts? Geht’s in die Clubs und Discos mit all den Gleichgesinnten und allem, was dazugehört, wenn man keine Verpflichtungen hat und in jeder Hinsicht ungebunden lebt und frei.

Traum vom ewigen Winter

Wann genau der Begriff entstanden ist, lässt sich heute nicht mehr lückenlos rekonstruieren. Die amerikanische Zeitschrift „Ski“ publizierte schon 1948 eine Geschichte über Ski-Bums, zwei Jahre später machte das renommierte  Fotomagazin „Life“ das Phänomen zum Teil der Populärkultur. Star der Szene war damals Warren Miller, geboren 1924 in Kalifornien, der nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA mit einem maroden Wohnwagen von Skigebiet zu Skigebiet fuhr, immer auf der Suche nach dem besten Schnee. Er schlief auf dem Parkplatz und ernährte sich von Ketchup mit heißem Wasser. In seinen Filmen prägte er einen neuen Typ Skifahrer: immer knapp bei Kasse, selten in frisch gewaschenen Klamotten, dabei aber besser Ski fahrend als alle anderen am Berg. Ein Abenteurer und Chaot, der Schwerkraft und Verantwortung gleichermaßen ins Gesicht lacht.

Auch in Europa entstanden Communitys dieser alpinen Hippies, unter anderem in Verbier, Chamonix – und in St. Anton. Vor allem Skandinavier, denen die heimischen Berge zu klein wurden, siedelten in die Alpen über und lebten den Traum vom ewigen Winter. Und wie die Hippies in Goa und Marokko blieben auch manche der Ski-Bums hängen: auf den Drogen, Tiefschnee und Ekstase, manche auch auf gefährlicheren Substanzen.

In den vergangenen Jahren wurde der Ski-Bum zu einer gefährdeten Art: Weil der Sport und das Leben in den Bergorten teurer wird, der Zwang, früh in die Karriere einzusteigen, größer, finden sich weniger junge Tiefschneefreaks, die ihr Leben so hingebungsvoll dem Skisport widmen, hört man aus den Skigebieten. Das einflussreiche US-Magazin „Outside“ erklärte den Lifestyle neulich gar für tot. Aber stimmt die Analyse? Der Ski-Bum, ein Phänomen der Vergangenheit?

Am Abend vor dem Rückwärtssalto trifft man die skandinavischen Freunde im Hotel Rosanna im Ortskern von St. Anton, ihrem Arbeitsplatz. Castanja Kilpatrick, eine blonde Dänin mit gepflegten Fingernägeln, trägt dunkelgrüne Cordbluse und Schürze und deckt Tische ein fürs Abendessen der Hotelgäste. Bjarke Mikkelsen steht hinter dem Tresen und zapft Bier. Alfred Balschmidt, den die anderen manchmal Professor nennen, hat eben noch ein Buch gelesen, jetzt räumt er einen Kühlschrank ein. Und Wictor Granström rennt von A nach B, er fungiert im Rosanna als Hausmeister und hat gerade ein kaputtes Sofa repariert.

Castjana Kilpatrick

Leben im Takt der Lifte

Das Restaurant im ersten Stock könnte auch eine Kopenhagener Szenebar sein, so aufgeräumt und schick, wie alles aussieht. Das Untergeschoss, wo sie jeweils zu viert in einem Zimmer mit Stockbetten schlafen, erinnert an ein in die Jahre gekommenes Hostel. Auf dem Fußboden liegen zerfledderte Skimagazine, getragene Socken, Bierdosen und leere Shampooflaschen, Fenster gibt es nicht. Im Herbst sind die Skandinavier hier eingezogen und haben geholfen, das leer stehende Hotel zu renovieren, haben Mauern eingerissen, Möbel ausgetauscht, Wände gestrichen, bis das Hotel Rosanna in den oberen Stockwerken wieder präsentabel aussah. Nur für den Keller war dann keine Zeit mehr. Als die Skisaison Mitte Dezember begann, wurden sie Kellner, Barkeeper und Hausmeister. An Weihnachten, als kurzfristig der Koch ausfiel, kochten sie das Menü für die Hotelgäste: schwedische Köttbullar und Kartoffelstampf.

Als der letzte Hotelgast an diesem Abend gegangen ist, sitzen die Freunde noch zusammen in den Polstersesseln der Hotelbar. Keine Party heute, dafür hat Castanja ihren Lieblingsdrink gemixt, Espresso Martini für alle. Es sei die Einfachheit, die ihr so gefalle am Leben in St. Anton, sagt sie. „Zu Hause stellen sich tausend Fragen, man ist gezwungen herauszufinden, was man machen möchte im Leben.“ Hier müsse man lediglich morgens entscheiden, ob man Ski oder Snowboard nehme. „Es sind perfekte 24 Stunden – und wir erleben sie jeden Tag von vorne.“

Ein gemütlicher Abend unter Freunden

Schon Castanjas Mutter war einst für eine ganze Saison in St. Anton. Wenn sie davon schwärmte, am Esstisch der Familie in Dänemark, klang das für die Tochter wie ein ferner Traum: Ski fahren mit Gleichgesinnten, nicht für zwei Wochen, sondern den ganzen Winter lang, ein Leben im Takt der Lifte. Wenn Surfer vom „endless summer“ träumen, dem ewigen Sommer mit perfekten Wellen, träumte Castanja vom endlosen Winter mit Pulverschnee. Als sie nach der Schule auf die Annonce des Hotels Rosanna stieß, beschloss sie, es der Mutter gleichzutun – und zog nach St. Anton, wo sie auf die anderen traf. Nun genießt sie ein Leben im Dazwischen: Der Ernst des Lebens liegt sowohl hinter als auch vor ihr.

Wie lang es sich so leben lässt? „Ich liebe jeden einzelnen Tag“, sagt Castanja und schwärmt von Nachmittagen mit Sonnenschein und Pulverschnee, von frühmorgendlichen Schwüngen auf der noch leeren Piste, von Picknicks, die sie jeden Mittwochmittag irgendwo weit abseits der Pisten veranstalten. Und trotzdem sagt Castanja: „Vermutlich bleibt es bei dieser einen Saison.“ Im Sommer will sie weiterziehen, nach Malta und Spanien reisen, vielleicht nach Hawaii zum Surfen. Nächstes Jahr könnte sie dann schon ein Studium beginnen, BWL, VWL, etwas in dieser Richtung. Das Leben als Ski-Bum, für Castanja ist es eines auf Zeit.

Auf Mamas Spuren: Als Castanja Kilpatrick erfuhr, dass ihre Mutter ein Jahr in St. Anton gelebt hatte, dachte sie sich: Das will ich auch. Und zog aus Kopenhagen an den Arlberg.Auf Mamas Spuren: Als Castanja Kilpatrick erfuhr, dass ihre Mutter ein Jahr in St. Anton gelebt hatte, dachte sie sich: Das will ich auch. Und zog aus Kopenhagen an den Arlberg.

Es ist diese Vernunft, die manche Puristen stört an den modernen Ski-Bums. Die Veteranen der Szene wünschen sich eine längere und absolutere Hingabe an das Ski-Bum-Leben, eine verrückte Kaputtheit im Sinne Warren Millers. Einer erzählt, wie er einst aus Australien nach St. Anton gezogen sei, und sich in der Fundkiste des Hotels, in dem er gearbeitet hat, ein Skioutfit zusammengestellt habe. Morgens sei er hinten auf den Skibus aufgesprungen, um den nicht bezahlen zu müssen. Die Saisonhippies des 21. Jahrhunderts seien fast alle finanziert von ihren Eltern. Dadurch verkomme der harte, aber umso romantischere Lebensstil zur Folklore.

Die Kritik des Althippies an den modernen Ski-Bums hört man oft in St. Anton – und gänzlich von der Hand zu weisen ist sie nicht. In den Szenebars der Ski-Bums, dem Krazy Kanguruh oder dem Tabs, trifft man tatsächlich vorwiegend junge Menschen, die irgendwann sagen, dass Mama und Papa sie unterstützen und sie nur mal einen Winter rauskommen wollten. Aber kann man den jungen Menschen das vorwerfen? Liegt es nicht eher an einem immer verschulteren Studiensystem? Einer Arbeitswelt, die Lücken im Lebenslauf nicht toleriert, einer Gesellschaft, die das Aussteigen immer schwerer macht?

Ganz die alte Schule

Auch in St. Anton trifft man noch Menschen, die das alte Ideal erfüllen. Zum Beispiel dieser Mann mit Schildkappe, Mitte 30, der am nächsten Morgen in der Werkstatt der Skibase Arlberg einen Ski über das rotierende Schleifgerät zieht. An der Wand hängen Tiefschneeposter und nackte Frauenbilder, Sprüche gegen AfD und Polizeigewalt, auf einem selbst gemalten Blatt steht: „Schirurgische Abteilung“. Während das Gerät die Macken des Skis ausbessert, stöhnt der Mann gelegentlich auf. Der Kopf, sagt er. Ging lang gestern. Christian Schleehauf kommt seit zehn Jahren jeden Winter an den Arlberg. Er ist eigentlich gelernter Zimmermann und stammt aus dem Südwesten Deutschlands. Am Ende jedes Winters, sagt Schleehauf, nehme er sich vor, dass dies sein letzter gewesen sei. Auch seiner Freundin daheim im Schwarzwald sage er das regelmäßig. In der Skibase lachen sie dann immer. Der Schleefi, wie sie ihn hier nennen, komme sowieso wieder. Kann gar nicht anders.

Jeder Winter kann der letzte sein: Christian Schleehauf kommt seit zehn Jahren im Dezember nach St. Anton und arbeitet neben dem Freeriden in der Skiwerkstatt.Jeder Winter kann der letzte sein: Christian Schleehauf kommt seit zehn Jahren im Dezember nach St. Anton und arbeitet neben dem Freeriden in der Skiwerkstatt.

Nach seiner kurzen Morgenschicht hat Schleehauf an diesem Tag frei – und frei heißt für ihn: Ski fahren. Als er in die Skisocken schlüpft, blitzen auf seinen nackten Füßen kurz blaugraue Skischuhschnallen auf: Schleehauf hat sie sich tätowieren lassen. Als er den Laden in Skimontur und mit Airbag-Rucksack verlässt, wartet draußen schon Nadine Wallner auf ihn, eine der besten Skifahrerinnen Österreichs, Bergführerin, einstige Siegerin der Freeride World Tour. Sie hat ihre breiten Tiefschneeski geschultert und trägt den Helm ihres Sponsors auf dem Kopf. Gemeinsam stapfen sie in Richtung der Gondel, der Blick nach oben verrät: Nebel. Nicht, dass die beiden das von irgendeinem Plan abbringen könnte. „Ski-Bums wie Schleefi sind für mich die besten Begleiter“, sagt Wallner. Weil sie sich weder an schlechtem Wetter noch an schwierigen Schneeverhältnissen stören – und weil sie verrückt genug sind, einer Freeride-Weltmeisterin zu folgen. Er sehe sich gar nicht wirklich als Ski-Bum, sagt Schleehauf. „Woran erkennt man einen Ski-Bum? Er behauptet, dass er keiner ist“, sagt Wallner.

Für heute haben sich die beiden eine Route ausgesucht, die sie lieber geheim halten wollen. Kennen nicht so viele Leute, daher ist der Hang auch ein paar Tage nach dem letzten Schneefall noch unverspurt. Der Wind bläst. Die Sonne versteckt sich. Kaum Leute unterwegs. Im Sessellift scannen Wallner und Schleehauf die Hänge ringsum, deuten auf Schneeverwehungen, die Lawinen ankündigen könnten, und sprechen noch einmal über mögliche Abfahrten für heute. Für jede von ihnen nutzen Schleehauf und Wallner Codewörter, die nur Menschen aus dem inneren Zirkel kennen.

Skigebiet St. Anton

Fragt man Wallner und Schleehauf nach dem Aussterben des Ski-Bum, sprechen sie von einem Paradox. Einerseits gebe es immer mehr skiverrückte Freerider, die mit bester Ausrüstung an den Berg kommen und irre Abfahrten fahren, doppelte Backflips drehen und die GoPro-Videos davon bei Instagram posten. Andererseits gingen die meisten von diesen Skiverrückten eben doch einem festen Beruf nach, studierten – oder seien mit ihren Instagram-Accounts so erfolgreich, dass sie Sponsoren hätten und so dem Traum vom ewigen Winter nachjagten. „Ski-Bum zu sein bedeutet, am Sonntag vor dem Supermarkt zu stehen und sich zu fragen, warum er geschlossen hat“, sagt Wallner. Es gebe da noch eine Handvoll, auf die das zutreffe, den verrückten Juan zum Beispiel, einen Argentinier ohne Krankenversicherung, den sie schon mit gebrochenem Bein aus einem Tal rausfahren mussten. Oder ein paar alte Einheimische, die einfach nicht aufhören könnten. Aber sonst?

Oben angekommen gleiten Schleehauf und Wallner aus dem Sessellift und schieben über einen Kamm auf eine steile Felsrinne zu, in der ein halber Meter Tiefschnee liegt. Stabile Schneedecke oder potenzielles Schneebrett? Wallner tritt mit ihrem Ski mehrmals seitlich in den Schnee. Beim letzten Mal habe sich nach dieser Bewegung der ganze Hang gelöst und sei als Lawine abgegangen, sagt sie. Diesmal nicht. Schleehauf schiebt an – und fährt in die Rinne. Links und rechts staubt der Schnee, wenn er einen Schwung macht. Federleicht sieht das aus, ein Tänzer auf weißem Parkett.

Als er drei Stunden und 1.000 Höhenmeter später wieder in seiner Werkstatt steht, sagt er: „Klar, die Szene hat sich verändert. Die Gesellschaft hat sich eben auch verändert.“ Alles sei professioneller geworden, der wirtschaftliche Druck höher, kaum jemand habe Lust, mit Mitte 30 noch in einer WG zu wohnen. Er lebt aktuell noch in einer, zusammen mit Jakob, einem jungen Dänen, dem er neulich erklärt hat, dass er seine Skisocken ruhig ab und an waschen dürfe. Fand der lustig. Schleehauf sagt, er sei wirklich am Zweifeln. Soll er weitermachen wie bisher, im nächsten Jahr wiederkommen, vielleicht für immer? Obwohl jeden Winter weniger Bekannte da sind, Familie und Freundin ungeduldig werden, die Gedanken an Rentenbeiträge, Immobilien und Familienplanung häufiger? Muss alles Schöne irgendwann ein Ende haben?

Die Leidenschaft, eingeschrieben in die Haut: Der passionierte Freerider Christian Schleehauf aus Hinterzarten hat sich Skischnallen auf den Fuß tätowieren lassen.Die Leidenschaft, eingeschrieben in die Haut: Der passionierte Freerider Christian Schleehauf aus Hinterzarten hat sich Skischnallen auf den Fuß tätowieren lassen.

Zurück in die Zukunft

Will man wissen, was aus Ski-Bums wird, die einfach nicht aufhören konnten, die immer wieder nach St. Anton kamen, ehe sie schließlich zum Inventar des Ortes zählten, kann man sich mit einem älteren Herrn an der Nassereinbahn verabreden. Das Problem ist: Hält man dort Ausschau nach einem „älteren Herrn“, wird man Gunnar Munthe ziemlich sicher übersehen.

Der 76-Jährige federt über den Parkplatz, als wäre er Mitte zwanzig. Sein Gesicht ist braun gebrannt, der Oberkörper muskulös, er geht jeden Tag mehrere Stunden mit dem Hund wandern, im Sommer ins Fitnessstudio, im Winter auf die Ski. Aber nur noch an sonnigen Tagen. „Ich bin in meinem Leben zu oft Ski gefahren, um mir schlechtes Wetter noch anzutun“, sagt Munthe.

Gunnar Munthe, 76, kam aus Schweden nach Tirol. Der Erfinder des Krazy Kanguruh ist der Urvater der Ski-Bums von St. Anton.Gunnar Munthe, 76, kam aus Schweden nach Tirol. Der Erfinder des Krazy Kanguruh ist der Urvater der Ski-Bums von St. Anton.

Munthe kam vor über 50 Jahren nach St. Anton, auch er aus Schweden. „Als ich damals mit dem alten Volvo P544 in den Ort fuhr, musste ich mitten auf der Straße anhalten und mir die Berge im Licht der aufgehenden Sonne ansehen. Mir ist fast der Atem stehen geblieben“, sagt er.

Munthe fuhr Ski wie der Teufel, immer auf der Jagd nach dem besten Pulverschnee – und der besten Party. Und er hörte nicht auf: „Mein Vater wollte, dass ich studiere …“ Aber Munthe blieb. Irgendwann entschied er sich, alles auf die Karte St. Anton zu setzen: Er kaufte das Krazy Kanguruh, den bis heute beliebtesten Après-Ski-Treff bei jungen Ski-Bums. 35 Jahre führte Munthe den Laden, dann verkaufte er. Heute besitzt er ein kleines Hotel, den Reselehof. Und fährt weiter Ski. Und wie.

Krazy Kanguruh

Gunnar Munthe lässt es auf der Piste krachen, dass auch viel jüngere, geübte Skifahrer ihm kaum folgen können. Er wartet unten an der Gondel, bis auch seine Begleiter ankommen. Sein Gesichtsausdruck vermittelt dann neben einer gewissen Genervtheit, nicht längst wieder auf dem Weg nach oben zu sein, auch den Stolz, es allen immer noch zeigen zu können.

Auf der Rasertour fährt Munthe schließlich auch beim stanton park vorbei – und trifft dort auf einen jungen Mann, der er selbst hätte sein können, vor 50 Jahren: Wictor Granström probt gerade den nächsten Rückwärtssalto.

Für einen Moment begegnen sich hier die Vergangenheit und die Zukunft der Ski-Bums in St. Anton, ein alter und ein junger Schwede. Der ältere Herr fährt schnell weiter, Funparks, Rails, lauter Rap aus Boxen, das ist nicht seine Welt. Der Junge dagegen schiebt ab, sein Rückwärtssalto soll endlich nicht mehr aussehen wie ein Unfall, er will lernen, sich geschmeidiger zu drehen. Wenn nicht mehr in dieser, dann in der nächsten Saison. Wictor Granström sagt, er könne sich ziemlich gut vorstellen, noch für viele Jahre wiederzukommen.

Perfekte Bedingungen: der Blick aus dem Funpark des Skigebiets Rendl am Arlberg.Perfekte Bedingungen: der Blick aus dem Funpark des Skigebiets Rendl am Arlberg.

Marius ist freier Journalist und lebt in Freiburg im Breisgau. Er schreibt Reportagen und Porträts, thematisch gern zu Klima, Sport, Gesellschaft. Weil er als Kind davon träumte, Skiprofi zu werden, freut er sich heute über jede Recherche, für die er in die Berge fahren darf.

Marius Buhl
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