Glas ist nicht gleich Glas
Ende der 1950er-Jahre machte Claus Riedel eine Entdeckung, die die Weinwelt für immer verändern sollte. Er erkannte, dass die Form und Größe eines Glases den Geschmack eines Weines beeinflussen – und entwickelte als Erster spezifische Trinkgefäße für unterschiedliche Rebsorten. Heute leitet sein Enkel Maximilian die Kufsteiner Glasmanufaktur in der elften Generation – und führt die Suche nach dem „maßgeschneiderten“ Glas fort.
Zerbrechliche Kunst: Die Nachfrage nach Gläsern von Riedel übersteigt die Produktionskapazitäten der Manufaktur in Kufstein – doch besondere Stücke wie dieser Dekanter werden nach wie vor hier mundgeblasen.
Herr Riedel, Ihre Glasmanufaktur bietet unzählige verschiedene Weingläser an. Geht es da um Stil oder doch um den Geschmack?
Wenn ich Ihnen bei einer Blindverkostung denselben Wein in zwei unterschiedlich geformte Gläser gieße, würden Sie schon beim Riechen sagen: Das kann nicht derselbe Wein sein.
Maximilian Riedel ist Geschäftsführer von Riedel Glas und leitet das Kufsteiner Familienunternehmen. Zuvor baute er in Frankreich und den USA das internationale Geschäft von Riedel Glas aus. Auch als Designer ist er tätig; für seine Gläser und Dekanter hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten.
Gemeinhin heißt es ja: ein großes Glas für Rotwein und ein kleineres für Weißwein. Sie haben nicht nur rebsortenspezifische Gläser, sondern unterscheiden nach Traubenherkunft oder Fassausbau. Warum benötigt ein im Eichenfass gereifter Chardonnay ein anderes Glas als ein normaler?
Maximilian Riedel unterbricht das Interview und legt zwei Papierunterleger auf den Tisch, auf die er vier verschiedene Gläser stellt. Auf dem Papier steht, um welche Gläser es sich handelt: Oaked Chardonnay, Riesling/Zinfandel, Old World Pinot Noir und Cabernet/ Merlot. In jedes Glas gibt er nun einen Schluck österreichischen Chardonnay, Jahrgang 2011. Es ist 10.45 Uhr.
Entschuldigung, aber Ihre Frage kann ich nicht einfach so beantworten. Sie müssen das selbst erleben. Riechen Sie mal in die Gläser hinein.
Ich würde sagen: Der Wein riecht vor allem unterschiedlich intensiv.
Das liegt daran, dass die Gläser unterschiedlich groß und die Mundränder unterschiedlich eng sind. Im kleinen Rieslingglas ist der Duft viel konzentrierter. Beim größten, das eigentlich für Cabernet oder Merlot ist, muss man schon eine raffinierte Nase haben, um überhaupt etwas zu riechen. Je größer das Glas, desto mehr Platz haben die Aromamoleküle. Deswegen benutzt man für Rotwein auch größere Gläser, weil hier noch Tannine und Holzaromen im Spiel sind.
Und Action: Für Riedel muss ein gutes Glas dem Charakter des Weines gerecht werden. Ob es das tut, lässt sich allerdings nur auf einem Weg herausfinden: man probiert.
Gläserne Vielfalt: Über die Jahrzehnte sind Hunderte Modelle entstanden. Eine Auswahl findet sich im hauseigenen Verkostungsraum.
Je mehr Geschmackskomponenten ein Wein hat, desto größer das Glas?
Richtig. Deshalb existiert auch das Oaked-ChardonnayGlas. Ein im Eichenfass gereifter Chardonnay hat neben den Aromen aus Frucht und Hefe auch Eichenholzaromen und -tannine. Natürliche Tannine haben nur Rotweine, die sie aus den Schalen der roten Trauben bekommen. Deshalb benötigt ein Oaked Chardonnay einfach mehr Raum, damit sich auch das Aroma des Holzes entfalten kann. Hier, ich möchte Ihnen etwas zeigen.
Maximilian Riedel steuert zielstrebig auf die Vitrinen zu und holt zwei verschieden große Gläser.
Das hier ist das Cabernetglas aus den 1980er- und 1990er-Jahren und das andere das aktuelle. Warum ist das von heute so viel größer? Wegen des Klimawandels! Denn durch die höheren Temperaturen nimmt der Zuckergehalt der Trauben zu, was für alkoholischere Weine sorgt – und Alkohol im Wein ist wie Fett im Fleisch: ein Geschmacksverstärker. Der moderne Wein mit mehr Alkohol braucht ein größeres Glas. So, dann kosten Sie mal – und achten Sie währenddessen darauf, wie Sie Ihren Kopf bewegen.
Je nach Glasform muss ich den Kopf zum Trinken unterschiedlich weit in den Nacken legen.
Ganz genau! Beim Chardonnayglas bleibt der Kopf vorne, und Sie müssen aufgrund der Form und des breiten Mundrands einen Unterdruck erzeugen, um zu trinken. Sie saugen den Wein also ein. Dadurch hat er wenig Kontakt mit der Zungenspitze – und genau das braucht ein Chardonnay.
Warum?
Weil Chardonnay die Säure fehlt. Die Geschmacksknospen auf der Zungenspitze stellen vor allem Süße fest. Wenn ein Chardonnay zuerst auf die Zungenspitze trifft, wirkt er zu cremig, zu opulent, zu schwer. Mithilfe des Chardonnayglases trifft er aber auf das Zungenzentrum und rollt dann über die Seitenwände ab. Dort schmeckt man Salz, Bitterstoffe und Säure. Durch die Glasform kann man also das Fließverhalten eines Weines bestimmen und damit auch seinen Geschmack. Hat eine Rebsorte viel Säure, möchte ich, dass der Kopf nach hinten geht und die Zunge nach vorne spitzelt. Ist sie dagegen eher fruchtig, steuern wir mit der Glasform das Zungenzentrum an.
Mittlerweile haben wir den österreichischen Chardonnay durch einen Pinot noir aus Kalifornien ersetzt. Maximilian Riedel – der 15 Jahre an der US-Westküste gelebt hat – bezeichnet ihn als „Fruchtbombe“ und „seine Muttermilch“.
Jetzt verkosten wir einen Rotwein, der nicht aus Europa, sondern aus der „Neuen Welt“ stammt. Dafür haben wir ein eigenes Glas. Warum? Der Pinot noir reagiert empfindlich auf Klima und Boden, wodurch das Anbaugebiet einen gewaltigen Einfluss auf den Geschmack hat. Deshalb haben wir sogar drei verschiedene Pinot-noirGläser entwickelt. Das Glas für die Neue Welt hat einen nach außen gelippten Mundrand, den „Säurespoiler“. Durch den fließt der Wein direkt und schnell auf die Zungenspitze, die Säure wird reduziert. Wie schmeckt es Ihnen?
Der Wein schmeckt mir ganz hervorragend.
Gell? Wie eine Kaschmirdecke, die sich über die Zunge legt. Und jetzt probieren Sie denselben Wein mal aus dem Cabernet/ Merlot-Glas. Wo ist da die Leichtigkeit? Wo ist dieses Samtige? Das ist doch ein ganz anderer Wein! Grün, grün! Wie ein Stängel, an dem man lutscht. Hier hat man einen Wein, von dem man sagt: Den möchte ich bei meiner Hochzeit haben, den möchte ich bei meiner Beerdigung haben, den möchte ich immer in meinem Leben haben. Aber aus einem anderen Glas getrunken schmeckt er plötzlich wie ein einfacher Dorfwein.
Ewiger Sommer: Das wohl einzige Dach in Kufstein, auf dem niemals Schnee liegt. Darunter befinden sich die bis zu 1.200 Grad heißen Öfen.
Arbeitsplatz Sauna: Das Zusammenspiel der Arbeitsstationen gleicht einem Uhrwerk. Dazu gehört auch der Griff zur Wasserflasche. Pro Schicht trinken die Glasbläser mehrere Liter
Cool bleiben: Die Glasbläser müssen hochkonzentriert sein und trotzdem locker bleiben.
Tradition und Moderne: Auf dem Werksgelände finden sich Kunstwerke, die zeigen: Handwerkliche Tradition bewahren und neue Wege gehen ist kein Widerspruch.
Geht es beim Glasdesign also darum, den Geschmack des Weines zu manipulieren?
Im Gegenteil. Durch die richtige Glasform soll der Wein genauso schmecken, wie es der Winzer beabsichtigt hat. Aber seinen wahren Charakter kommuniziert ein Wein nur im passenden Glas. Mit unserem Sortiment soll ein Wein für jeden zugänglich gemacht werden – egal ob Profi oder Anfänger.
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Dieser Artikel ist aus dem meinTirol Magazin. Unter www.tirol.at/abo können Sie das Magazin abonnieren und bekommen jede Ausgabe kostenfrei nachhause in den Briefkasten.