Roman aus dem Eis: Die Entdeckung der Eishöhle am Hintertuxer Gletscher
Tief im Eis des Hintertuxer Gletschers verbirgt sich ein Höhlensystem. Dass es existiert, ist ein großes Wunder. Dass Roman Erler es gefunden hat, ein kleines. Die Geschichte einer Entdeckung.
Die Bergstation am Hintertuxer Gletscher um 9 Uhr morgens, 3.250 Meter über dem Meer. Die Seilbahn spuckt in regelmäßigen Abständen kleine Gruppen von Skifahrern und Snowboardern aus. Sie steigen aus der Gondel – und stehen auf einem Naturwunder. Doch sie bemerken es nicht. Weil sie abgelenkt sind vom Anblick hunderter Gipfel in der Morgensonne, weil das Wunder von hier oben schlichtweg nicht zu sehen ist.
Um das Mysterium zu erleben, müssten sie dem hochgewachsenen, schlanken Mann folgen, der nun in steigeisen-festen Stiefeln die Piste überquert und schließlich wieder verlässt. Nach ein paar Metern bleibt er vor einem unscheinbaren Gang stehen, der in die Schneewand gegraben wurde. Roman Erler sortiert kurz seine etwas widerspenstigen, silbrigen Haare unter die Stirnlampe, dann dreht er sich um und taucht in den Bauch des Gletschers ein.
Roman Erler: Entdecker des Natureispalasts am Hintertuxer Gletschers.
Herr Erler, wie lange haben Sie gesucht, um diesen Eingang zu finden?
Es war Zufall, dass ich darauf gestoßen bin. Ich war auf dem Rückweg von einer Tour auf den Olperer und ging über die Piste Nr. 5 in Richtung Gondel. Da fiel mir ein schmaler Spalt an der Seite des Gletschers auf, in etwa zehn Meter Höhe. Ich dachte mir: Das schaue ich mir mal genauer an.
Sind Spalten in einem Gletscher nicht normal?
Doch, doch, es gibt unzählige. Und genau das hat diesen Spalt für mich so interessant gemacht. Die Piste Nummer fünf ist die steilste Abfahrt auf dem Gletscher, und normalerweise gilt die Regel: je steiler das Gelände, desto größer die Zugkräfte, die ein Zerreißen herbeiführen. Oberflächlich gibt es hier aber keine Spalten. Das hat mich immer verwundert.
Ein Weg über Leitern und in Eis gemeißelte Treppen führt ins unterirdische Höhlensystem – Tonnen von Eis liegen oberhalb.
Was haben Sie entdeckt?
Ich habe mich der Stelle vorsichtig genähert, eine Sicherung mit Eisschrauben gebaut und das Loch mit dem Pickel so weit vergrößert, dass ich hineinklettern konnte. Im Inneren war es totenstill. Stockdunkel. Aber auch so geräumig, dass ich mit meiner Stirnlampe das Ausmaß nicht erkennen konnte. Ein paar Tage später kam ich mit besserer Ausrüstung zurück und wagte mich weiter hinein. Dann wurde mir klar: Das hier ist kein normaler Spalt. Das ist ein gigantisches System von natürlichen Hohlräumen.
Wem haben Sie Ihre Entdeckung als Erstes gezeigt?
Meiner Frau Marlies. Sie hat mich auch davon überzeugt, die Gletscherhöhle für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ich war ursprünglich dagegen, weil ich wusste: Hohlräume im Eis sind kurzlebig. Im Jahr darauf haben wir uns dann trotzdem dazu entschieden, ein paar Touren für ausgewählte Gruppen anzubieten. Und rein interessehalber habe ich die Höhle vermessen. Dabei kam mir langsam ein Verdacht.
Mein Schatz: Als Erler den Zugang zur Höhle entdeckte, war sein erster Impuls, sie für sich zu behalten. Doch seine Frau Marlies überzeugte ihn, die Schönheit mit der Welt zu teilen.
Ein Verdacht?
Dass der Gletscher hier nicht auf der Sohle gleitet. In 25 Meter Tiefe habe ich dann einen Vermessungspunkt gebohrt, um zu überprüfen, wie schnell das Eis in die Tiefe sackt. Aber es rührte sich nichts. Heute wissen wir, dass der Hintertuxer Gletscher im oberen Bereich auf einer minus 1,9 Grad kalten Permafrostlinse steht, also am Untergrund festgefroren ist. Nur deshalb sind die Hohlräume so stabil. Von so einem Phänomen hatte man davor noch nie gehört. Heute glaube ich, dass es auf der Welt noch weitere Höhlensysteme dieser Art gibt. Aber das hier ist das einzige, von dem wir wissen.
Mittlerweile befinden wir uns an der Stelle, an der der Gletscherforscher und Bergführer einst den Vermessungspunkt setzte. Hinter uns liegt ein Weg über Leitern und gehauene Treppen, über uns das meterdicke, tausende Tonnen schwere Eis. Die Wände der Gänge sind meist wie poliert, spiegelglatt und hart, als wären sie aus milchigem Glas. In manchen Abschnitten sind sie von abertausenden Kristallen überzogen: hexagonal, plattenförmig oder spitz wie Nadeln. Immer wieder öffnen sie sich und geben den Blick frei auf Höhlen, in denen der Gletscher seine aberwitzigsten Skulpturen aufbewahrt:
Kolossale Stalagmiten, geschwungene Vorhänge und sich windende Säulen aus Eis. Die Formen wirken starr, ja ewig. Und sind dabei doch lebendig, fließend, dynamisch. Das Ergebnis eines Prozesses, der für den Menschen nur theoretisch nachvollziehbar ist. Weil die ungeheuren Kräfte, die sie formten, unsichtbar bleiben. Und uns das Denken in geologischen Zeiträumen, also in Jahrhunderten und Jahrtausenden, fremd ist.
Die Höhle wandelt sich ständig: Sind die Bedingungen günstig, können über Nacht bis zu zehn Zentimeter große Eiskristalle wachsen.
In den Hohlräumen gibt es eine Vielfalt von bizarren Eisskulpturen. Erler sagt deshalb: „Die Natur ist der beste Baumeister.“
Wie ging es nach den ersten Besichtigungen weiter?
Zu Beginn wussten wir ja noch nicht, dass die Hohlräume stabil bleiben würden. Deshalb haben wir viele Bereiche erst nach und nach erschlossen. Mittlerweile stecken hier tausende Arbeitsstunden drin. Auch deshalb, weil jemand nach ein paar Jahren ein gehässiges Schreiben über uns verfasste und an jede in Frage kommende Behörde schickte. Man warf uns vor, die Sicherheit unserer Besucher aufs Spiel zu setzen.
Wie haben Sie reagiert?
Gemeinsam mit den Österreichischen Bundesforsten und dem damaligen Bezirkshauptmann haben wir überlegt, wie wir eine gesetzeskonforme Regelung finden können – und sind letztlich beim Tiroler Veranstaltungsgesetz gelandet. Wir haben dann alle Vorschriften umgesetzt: ein statisches Gutachten erstellen lassen und den TÜV einbestellt, um etwa die Elektrotechnik zu zertifizieren. Als die versucht haben, die Leitfähigkeit hier drin zu messen, dachten sie zuerst, ihre Geräte wären kaputt. Die Leitfähigkeit von Gletschereis ist nämlich fast null. Sogar die Landesstelle für Brandverhütung hatten wir da! Ein Brandschutzgutachten für einen Gletscher … Als die Leute von der Landesstelle hier oben ankamen, waren selbst die verwundert.
Die Tour nähert sich ihrem Ende, nur eine Sache möchte uns Roman Erler noch zeigen. Für viele Besucher und Besucherinnen ist sie der Höhepunkt im Eispalast: 3.220 Meter über dem Meer, 30 Meter unter einer Skipiste, inmitten eines Gletschers, befindet sich ein circa 30 Meter tiefer See. Es ist der einzige Ort auf der Welt, an dem man im Inneren eines Gletschers Stand-up-Paddeln, Boot- oder Kanufahren kann.
Oben fahren sie Ski, unten gehen sie schwimmen – dazwischen liegen dreißig Meter Eis. Tief im Inneren des Gletschers gibt es einen See, der die Wissenschaft lange vor ein Rätsel stellte.
Warum friert der See nicht zu?
Zum einen, weil sich das Eis aufgrund der Permafrostlinse an dieser Stelle nicht bewegt. Wäre das der Fall, würden Spalten entstehen und das Wasser könnte abfließen. Aber dass die Oberfläche nicht gefriert, hat mit dem Wasser selbst zu tun: Ihm fehlen Ionen – und destilliertes Wasser gefriert erst bei niedrigeren Temperaturen. Deshalb ist das Wasser hier bis zu minus 0,6 Grad Celsius kalt. Normalerweise hat ein gefrorener See 2 Grad Celsius direkt unterhalb der Eisdecke. Übrigens ist das auch der Grund, weshalb sich bei uns die Weltelite der Eisschwimmer trifft.
Waren Sie selbst schon mal drin?
Wir hatten mal eine größere Filmproduktion hier. Kurz bevor die Dreharbeiten losgehen sollten, fiel ein Teil ins Wasser, ohne das die Kamera nicht mehr funktionierte. Da habe ich mich nackt ausgezogen und es herausgeholt.
Gibt es noch Bereiche, die nicht für die Öffentlichkeit zugänglich sind?
Tatsächlich kann man nur einen Bruchteil besichtigen. Der erheblich größere Teil bleibt für die Öffentlichkeit verschlossen.
Um das Höhlensystem begehbar zu machen, hat Erler tausende Stunden Arbeit investiert. Trotzdem kann die Öffentlichkeit nur einen kleinen Teil der Höhle besichtigen.
Weil Sie das eine oder andere Geheimnis des Gletschers für sich behalten wollen?
Nein. Zum einen wollen wir gewisse Bereiche für Forschungszwecke schützen, und dafür ist es wichtig, dass wir die Eingriffe minimieren. Zum anderen müsste man oft riesige Eiskristalle oder Vor-hänge zerstören, um weiterzukommen. Das möchte ich vermeiden. Ich habe hier auch so schon Dinge gesehen, die vor mir noch kein anderer Mensch gesehen hat. Einmal habe ich eine Wassertasche angebohrt. Als ich am nächsten Tag wiederkam, war das Wasser abgelaufen und ich konnte durch das Loch zum ersten Mal hineinsehen. Ich hatte eine 25 Meter tiefe Gletscherspalte angezapft, in der sich unter Wasser unzählige Kristalle gebildet hatten. Diesen Anblick werde ich nie vergessen.
In einem Artikel wurde Roman Erler mal als „Indiana Jones vom Tuxer Ferner“ bezeichnet. Eine passende Beschreibung für den staatlich geprüften Höhlen- und Bergführer, der den ersten Klettersteig im Zillertal baute, Canyoning-Strecken erschloss und vor Jahrzehnten die Spannagelhöhle ausbaute. Mehr Informationen unter www.natureispalast.info