Morgensonne
Fotos: Hans Herbig & Ropert Pupeter
Wer das Grau der Städte unter sich lässt, wird auch in der kalten Jahreszeit nicht über Lichtmangel klagen. Wir wollten mehr: einen Sonnenaufgang im Winter, so weit oben am Berg wie möglich. Und haben eine Nacht in einer Biwakschachtel verbracht.
Etwas ist anders. Immer wieder ist man aufgeschreckt in der kurzen Nacht, hat sich in der schmalen Koje gedreht, ist zurückgeglitten in unruhige Träume. Doch wo bisher farblose Dunkelheit war – eine schwarze Wand, unmöglich, die Maße des engen Raumes auch nur zu erahnen –, zeigen sich jetzt in blassen Graustufen die Konturen der Gefährten, die sich in ihren Daunenkokons regen. Es dauert einen Moment, bis einem die Veränderung bewusst ist, fast will man es nicht akzeptieren, aus einer Ahnung auch, dass mit der Dunkelheit das bisschen Wärme verschwinden könnte, das sich endlich im Schlafsack gesammelt hat. Und während man halb denkt, halb träumt, ist man wach. Dort, im Osten der achteckigen Schachtel, die genauso gut auf dem Grund des Ozeans ruhen könnte, an den Fesseln eines Ballons hängen oder einsam in der Wüste eines fernen Planeten liegen, war am Abend noch eine blinde Scheibe. Jetzt glüht das Bullauge milchweiß auf. Als würde eine unsichtbare Hand den Dimmer drehen, langsam, ganz langsam. Das große Licht geht an.
Aufstieg ins Gegenlicht: auf halber Strecke zum Gipfel des Wassertalkogels.
Während der Sonnenuntergang mit Sundownern gefeiert wird, fotografiert und andächtig betrachtet über dem Meer oder den Gipfeln der Berge, aber auch von einem Aussichtspunkt oder einer Dachterrasse in der Stadt, ist der Sonnenaufgang heute ein selten erlebter Moment. Im Alltag klingelt irgendwann der Wecker, es leuchtet maximal das Badezimmerlicht. Und am Wochenende verschläft man ihn zumeist. Wann hat einen das letzte Mal die Sonne geweckt? Vor vielen Jahren vielleicht, an einem Sommermorgen am Strand? Und wie viel aufregender muss es sein, diesen Moment einmal im Winter zu erleben? Ganz oben in den Bergen? Gegen ein schlaffes Wintergefühl hilft ein Tag oben in den Alpen. Da oben ist Licht, wenn im Tal die Nebeldecke hängt. Licht, das sich bewegt, im Tagesverlauf verändert, ein Himmel, durch den die Wolken ziehen. Und selbst wenn die Sonne nicht scheint: man fühlt sich ihr wenigstens näher. Das erlebt jeder Skifahrer, der von November bis April bei bester Laune dem Wochenende entgegenfiebert, während die anderen in ihrer halbjährigen Winterdepression versinken. Doch dieses Mal wollten wir dem chronischen Lichtmangel der kalten Zeit eine Überdosis entgegensetzen: nicht nur das letzte Licht eines Wintertages sehen, sondern das erste, ganz exklusiv. Eine Nacht draußen verbringen, am besten mit Blick auf den Horizont, ganz weit weg von den trüben Tiefen der Ebene. So nah an der Sonne wie möglich.
Zur Sonne: Irgendwann wird sie die Wolken schon vertrieben haben.
Das Rheinland-Pfalz-Biwak liegt auf 3.247 Meter Höhe, fünf Meter unter dem höchsten Punkt des Wassertalkogels, einer ausgesetzten Kuppe im Geigenkamm in den Ötztaler Alpen. Biwakschachteln dienen als Notunterkünfte. In unserer sollen im Sommer Wanderer auf dem Mainzer Höhenweg Unterschlupf finden. Im Unterschied zu einer Berghütte gibt es weder Heizung noch Wasser, keinen Strom und auch nichts zu essen, was man nicht selbst hinaufgetragen hätte. Von der Hochgebirgsnacht trennt einen nichts als eine achteckige Kunststoffschale in 70er-Jahre-Orange.
Platz genug: das Rheinland-Pfalz-Biwak bietet neun Personen Unterschlupf.
Im Winter führen zur Biwakschachtel verschiedene Wege. Wir wählen eine freche Variantenabfahrt von der Bergstation des Schwarzkogels im Söldener Skigebiet. Neben der üblichen Tourenausrüstung haben wir die Zutaten für ein warmes Abendessen auf die Rucksäcke verteilt, Gaskartuschen und etwas Wein. Doch die Hälfte des Packvolumens geht für die Schlafsäcke drauf.
Gegen das schlaffe Wintergefühl hilft ein Tag in den Bergen
Mit einem Klick in die Bindungen und dreimal Schieben verlassen wir den Rummel von Sölden und stehen vor einer 700-Höhenmeter- Abfahrt, die über zwei steile Stufen ins Pollestal abfällt. Es hat geschneit in den vergangenen Tagen, so viel, dass eine reinweiße Decke über der Bergwelt liegt. Schon nach den ersten, langen Schwüngen herrscht völlig Stille. Mensch klein, Berge riesig. Und das schönste Lichttheater. Mal glimmt die Sonne geheimnisvoll im Hintergrund, mal wirft sie ihre Strahlen fast schon verschwenderisch über den Schnee, zeichnet Muster aus Licht und Schatten. Wo am Talgrund die meterdicke Schneedecke den Pollesbach verdeckt, fellen wir auf und spuren das Silberkar hinauf. Zu später Nachmittagsstunde erreichen wir nicht das Tal, wo man als Skitourengänger um diese Zeit zu sein gewohnt ist, sondern einen Gipfel mit Rundumpanorama auf die Wildspitze und die restliche Prominenz der Ötztaler und Stubaier Alpen. Im Osten verschwinden die letzten Streifen blauen Himmels des Tages, von Westen zieht wilderes Wetter auf. Doch die Dramaturgie einer Skitour bei hochwinterlichen Bedingungen erlaubt ohnehin kaum ein beschauliches Betrachten des Sonnenuntergangs. Nach dem Anstieg kühlt man rasch aus, also kriechen wir bald in den Oktaeder, wo wir uns um die Grundbedürfnisse kümmern: Wasser schmelzen, kochen, irgendwie warm werden.
Das Biwakbuch verzeichnet für die Saison kaum zwei Dutzend Übernachtungen.
Ist da etwas? In der kalten Biwaknacht macht sich das Licht vor allem durchs eine Abwesenheit bemerkbar.
Kein Licht, kein Feuer, kein Wasser: Schnee muss auf den mitgebrachten Gaskartuschen geschmolzen werden.
Beim Schneeholen sieht man hinter der Wetterfront den letzte Schein des Tages glimmen. Und schnell wird klar, dass sich das Licht in den nächsten Stunden vor allem durch seine Abwesenheit bemerkbar machen wird. Licht – und tatsächlich etwas Wärme – werden nur mehr ein paar Teelichter spenden. Nach dem Essen gibt es für jeden noch einen Schluck Schnaps, dann kriechen wir in voller Bekleidung in die Stockbetten. Die momentan abwegigste Vorstellung: den Wecker um sechs zu stellen, um zur kältesten Stunde den Sonnenaufgang zu betrachten.
Die Sonne ist an diesem Morgen eine schüchterne Schönheit
Aber eine Uhr brauchen wir dann eh nicht. Das Bullauge im Osten der Biwakschachtel wird heller und heller, vielleicht sehnen sich unsere Körper ja tatsächlich nach Licht, nach einer Nacht in der lichtlosen Schachtel. Den Sonnenaufgang, auf den wir uns so gefreut haben, bekommen wir dann nicht zu sehen: kein Rosa, kein Rot, keine dramatischen Farben und Formen.
Lohn der Nacht: auf dem Weg zur Abfahrt am frühen Morgen
Die Sonne ist an diesem Morgen eine schüchterne Schönheit, die sich nur indirekt zeigt, in ganz dezenten Farben. Aber das ist nicht weniger großartig. Aus Schwarz wird ein helleres Schwarz, für das man noch einen Namen erfinden müsste, es folgen Grauschattierungen, von denen es unzählige zu geben scheint, dann leichte Pastelltöne. Wirklich klar wird das Licht nie, es bleibt fahl, blass und milchig. Aber genau das lässt die Landschaft um uns herum, den Schnee, die steilen Hänge, die zackigen Gipfel, wie verzaubert wirken. Eine Märchenlandschaft. Es ist der fahlste Sonnenaufgang, den wir in unserem ganzen Leben gesehen haben. Aber auch einer der beeindruckendsten.
Action: Pünktlichzur Einfahrt in dieNordosthänge gehtdas Licht richtig an.
Finale Lichtdusche: Unten im Ötztal zeigt die Sonne noch einmal, was sie kann.
Als wir die Luke nach draußen öffnen, weht eine eisige Bö eine Wolke Pulverschnee ins Biwak. Das Heulen des Windes, das uns schon in der Nacht öfter geweckt hat, ist immer noch da. Für die lange Abfahrt, die wir heute vor uns haben, sind die Bedingungen noch zu schlecht. Wir werfen den Gaskocher an, machen Kaffee und kriechen noch mal in unsere Schlafsäcke. Der Kaffee wärmt Hände und Bauch, in der Biwakschachtel breitet sich Behaglichkeit aus. Die Wintersonne hat uns sogar noch mit ihrem schwachen Auftritt an diesem Morgen ein Geschenk gemacht. Wir müssen auf besseres Licht warten, aber selten war Warten so angenehm: Gibt es etwas Gemütlicheres, als in Daunen gebettet in einer warmen, halbdunklen Ecke zu liegen, während draußen ein Schneesturm um die Felsen pfeift?
Wer als Skitourengänger eine Nacht im winterlichen Gebirge erleben möchte, fängt mit einem Winterraum an: Die meisten Alpenvereinshütten bieten in den unbewirteten Monaten die Möglichkeit, in einem beheizbaren Raum zu schlafen und zu kochen. Die Tour mit Übernachtung im Rheinland- Pfalz-Biwak verlangt etwas mehr Erfahrung. Die Abfahrt vom Schwarzkogel sollte man nur bei sicheren Verhältnissen wagen. Im Biwak gibt es zwar Wolldecken, aber ein warmer Schlafsack sollte dabei sein. Wer Gaskartuschen mitbringt, findet die nötige Ausstattung zum Kochen. Das Auto parkt man am besten in Huben und nimmt den Skibus nach Sölden.