Bahn frei
Aus der Bahn! Dem „Klima“-Räumer kommt man besser nicht in die Quere – vor allem, wenn man eine Schneeflocke ist.
Schaufeln im ganz großen Stil: Ohne spezielle Schneeräumzüge würde im Tiroler Winter der Bahnverkehr auf vielen Strecken zum Stillstand kommen. Unterwegs mit einem Räumkommando der ÖBB, in Richtung Berg und Schnee.
Draußen ist es dunkel, kalt und klamm. Drinnen, in der hell erleuchteten Halle des Innsbrucker Hauptbahnhofs, tickt die Uhr müde Richtung 5 Uhr. Auf den Abstellgleisen des Güterbahnhofs stehen die meisten Loks und Waggons noch als große Schemen in der Dunkelheit. Nur ein Zug ist zur Abfahrt bereit, und auf genau den steuert Josef Krug zu. Im Tal liegt zwar nicht viel Schnee, aber in den Bergen schaut es anders aus. Dort braucht man die Hilfe von Krug und seiner Truppe. Ihre Aufgabe: den Betrieb am Laufen halten, bei jedem Wetter. Krug wirft einen abschätzenden Blick in den finsteren Himmel. „Hinter Zirl“, sagt er, „wird es dann losgehen.“
Der Schnee ist in Tirol ein wichtiger Wirtschaftsfaktor; die Menschen freuen sich den ganzen Sommer darauf, endlich wieder die Ski aus dem Keller zu holen. Doch für Eisenbahnunternehmen ist der Winter eine kritische Jahreszeit. Weil schon eine vergleichsweise dünne Flockenschicht auf den Gleisen den Bahnverkehr nachhaltig stören kann, investiert die Österreichische Bundesbahn (ÖBB) jede Menge Maschinen- und Menschenkraft, um die Schienenverbindungen frei zu halten. Denn wenn Züge stehen bleiben, stecken Pendler fest, kommen Kinder nicht in die Schule, gerät der so exakt getimte Warenfluss aus dem Takt – und auch Gäste kommen nicht im Hotel an. Diese Herausforderung ist in Tirol besonders groß, wo es im Winter manchmal so heftig schneit, dass ganze Täler von der Außenwelt abgeschnitten werden.
Bereit zur Abfahrt, wenn andere noch schlafen: Die Schneeräumer sind frühmorgens die ersten auf den Schienen – notgedrungen.
Bis zu 400 Menschen sind deshalb jede Saison in Tirol und im benachbarten Vorarlberg für die ÖBB im Einsatz. Josef Krug, Chef des Schneeräumtrupps, soll an diesem Morgen die Strecken im nördlichen Tirol frei halten. Seit 15 Jahren fegt Krug die Schienen – ein erfahrener Eisenbahner in oranger Arbeitsjacke, der die Gleise bergauf und bergab bis ins kleinste Detail kennt, wobei er selbst das so wortkarg wie bescheiden formuliert: „Die Erfahrung hilft.“ Und Erfahrung braucht es, um die Räummaschine zu beherrschen, den tonnenschweren Klima-Schneepflug, so benannt nach seinem österreichischen Erfinder Rudolf Klima. An der Spitze ragt ein massives Schild auf, gegen den jeder Kuhfänger verblasst. Krug kraxelt eine Leiter empor und in den Koloss hinein. 5 Uhr, Abfahrt, höchste Zeit. Das Räumkommando muss mit der Arbeit fertig sein, bevor die ersten Regionalbahnen losfahren. Im Kampf gegen den Schnee hat Krug heute vier Männer dabei. Einer sitzt in der Lok, die den Pflug von hinten anschiebt, der Rest mit ihm im Schneepflug. Der sieht innen am ehesten wie ein Bauwagen aus: Den größten Platz nimmt eine Art Aufenthaltsraum ein, zwei Tische, mehrere Stühle, Schneeschaufeln in der Ecke. Viele Weichen werden zwar beheizt, um die sensible Technik zu schützen, müssen aber trotzdem mitunter von Hand von den Schneemassen befreit werden. Vorne hat der Klima-Räumer einen Führerstand – nur dass über die vielen Hebel und Knöpfe nicht der Antrieb bedient wird, sondern die Pflüge an der Spitze, die sich mittels Hydraulik ein- und ausklappen lassen. Ruckelnd setzt sich das tonnenschwere Gespann aus Lok und Pflug in Bewegung. Hinter dem Fenster ziehen die Lichter Innsbrucks vorbei und manchmal ein einsames Auto. Die Gleise, die in den Scheinwerfern des Klima-Räumers auftauchen, sind weitgehend frei von Weiß, aber das hat nichts zu bedeuten: Die wahre Arbeit für Schneeräumer wartet außerhalb des niedrig gelegenen, gut ausgebauten Inntals, oben in den Bergen, wo viel Schnee fällt – und wo keine Güterzüge entlang-rollen, die durch ihr Gewicht den Schnee zur Seite drücken können, wie Krug erklärt. Die leichteren Personenzüge tun sich da schwerer. An diesem Tag geht es hinein ins Karwendel, auf eine malerische, größtenteils eingleisige Strecke, die sich durch schroffe Felswände, wilden Wald und enge Kurven über Zirl und Seefeld bis zur deutschen Grenze bei Scharnitz windet. Der höchste Punkt liegt am Seefelder Sattel mit 1.185 Metern über null. Tag für Tag quälen sich hier Regionalzüge auf der einen Seite hinauf und auf der anderen hinunter – sofern sie freie Bahn haben.
Eine Zeit für Luxus: Die Arbeiter warten im Aufenthaltsraum des "Klima“-Schneepflugs auf den Einsatz.
Bei Zirl geht es steil den Berg hinauf – und Krugs Prophezeiung wird wahr: Plötzlich tanzen draußen Schneeflocken zwischen Scheinwerferlicht und Morgenfinsternis, verschwinden die Gleise unter dem Schnee. Im Führerhäuschen herrscht gespannte Stille. Krug sitzt in der Mitte auf einem Schemel, je ein Kollege links und rechts an den Hebeln. Unter lautem Zischen senken sich die Schilde des Klima-Räumers. Prompt erhebt sich neben ihm eine weiße Bugwelle, die mit jedem Höhenmeter ein bisschen größer wird, während das mächtige Fahrzeug mit 60 Stundenkilometern dahinrauscht.
Für das Schneeräumen reicht Gasgeben alleine nicht: Ständig müssen Krug und seine Männer die Schilde justieren, sie zum Beispiel im richtigen Moment zurücknehmen, wenn hinter einer Kurve ein enger Tunnel auftaucht. Oder sie müssen den Neigungswinkel des Pflugs so anpassen, dass sich die weiße Welle nicht auf die nahe Straße ergießt. Es zischt nun ständig in der Kabine, die Männer schieben die Hebel vor und zurück. Die Sicht durch die Flocken reicht vielleicht 50 Meter weit, da bleibt wenig Zeit, um auf Überraschungen zu reagieren. Ab und zu hängen Krug und seine Kollegen deshalb den Kopf aus dem Fenster, in der Hoffnung, ein paar Meter weiter zu sehen. Ein „Räumfehler“ wäre nicht nur ärgerlich, sondern womöglich mit Schaden für Mensch, Maschine und Schienentrasse verbunden.
Mann mit Durchblick: Josef Krug ist Chef der Truppe, die an diesem Morgen die Karwendelstrecke frei räumt – und ein erfahrener Eisenbahner.
Schneeräumen erfordert also höchste Konzentration. Trotzdem darf man diese Fahrt noch als entspannt bezeichnen – in Tirol schneit es schließlich oft so stark, dass Krug und Kollegen mit dem Räumen kaum hinterherkommen. 2021 etwa brachten starke Schneefälle unter anderem den Verkehr gen St. Anton zeitweise völlig zum Erliegen: 1,30 Meter hoch türmten sich auf den Schienen am Arlberg die weißen Massen. Und weil sich an den Hängen über den Gleisen bedrohliche Schnee-bretter häuften, wurde sogar das Bundesheer in Alarmbereitschaft versetzt. Im Inntal kämpften die Räumtrupps zusätzlich mit umgestürzten Bäumen, die die Oberleitung zerstört hatten.
Deshalb steckt die ÖBB schon im Sommer unzählige Arbeitsstunden in die Sicherung der Bahnstrecken. Mitarbeiter klettern dann zum Beispiel die steilen Berghänge ab, um Lawinennetze zu inspizieren, oder schmieren und warten die Räumgeräte.
Aus dem Führerstand heraus steuern die Männer den Schneepflug – und heben und senken die Schilde, um den Schnee effizient und sicher beiseitezuschaffen.
Gefühlt eine halbe Ewigkeit geht es so durch die Dunkelheit dahin, zischend und rumpelnd, wer nicht sitzt, hält sich besser fest. Als der Klima-Räumer Seefeld passiert, weicht das schwarze Gestöber kurz dem Licht: Straßenlaternen enthüllen eine Stadt unter tiefem Schnee und warnblinkende Räumfahrzeuge auf den Straßen. Hinter dem Bahnhof Scharnitz geht es dann noch ein kurzes Stück geradeaus, „jetzt aber mit Schwung“, sagt Krug, bloß nicht selbst stecken bleiben! Dann Stopp im Nicht-ganz-Nirgendwo, auf der Nordseite des Karwendels, exakt an der Grenze. Der Schneefall hat nachgelassen. Auf der anderen Seite der Fenster erstreckt sich ein menschenleeres Deutschland. Nicht einmal die bayerischen Kollegen waren schon da, davon zeugt eine dünne Schneeschicht auf den Gleisen. Dabei herrscht hier sonst Hochbetrieb: Ein paar Meter weiter führt die Straße nach Mittenwald, an der Tankstelle daneben haben schon abertausende Urlauber ihr „Pickerl“ für die Tiroler Autobahnen geholt. Krug reißt die Türe auf und schaut in die Dämmerung. Es ist ruhig, anders als gestern, als ein Sturm durch die Berge pfiff und selbst den wuchtigen Schneepflug ins Wackeln brachte. Erst eine knappe Stunde ist seit Innsbruck vergangen, aber für das Räumkommando ist das Gröbste geschafft. Zurück geht es rückwärts. Wenden kann der Zug auf der Strecke nicht, aber so sieht man wenigstens, was man geleistet hat, blank liegen die Schienen da. Allein ein Nebengleis hinter Seefeld ist noch zu räumen. Das ist vergleichsweise schnell geschafft: Der Klima-Räumer wird ein Stück zurückgesetzt, die Weiche aus der Innsbrucker Zentrale umgestellt und der seitliche Pflug ausgefahren. Dessen Hydraulik steuert Krug nicht aus dem Führerstand heraus, sondern aus einer Konsole im Mittelteil des „Klima“-Räumers. Immer wieder streckt er dazu seinen Kopf aus einem Fenster, während die Finger drinnen an den Hebeln zappeln. „Schneller“, kommandiert er das Fahrtempo, „langsamer“.
Eine weitere Schneewelle ergießt sich den Bahndamm hinab. „So passt’s“, sagt Krug. Auf dem Rückweg, kurz vor Zirl, bietet sich ihm und seinen Kollegen dann ein zweiter, besonderer Belohnungsblick: über das bis eben noch ins Dunkel gehüllte Inntal. Die Sonne taucht zwischen den Gipfeln auf, ganz vorsichtig, als wolle sie schauen, ob die Luft rein ist; tief-blau liegt der Himmel da und unten das Weiß-Grün-Grau des Tals. Auch ein Stückerl weiter, in Innsbruck, ist das Leben jetzt erwacht. An den Bahnsteigen stehen müde Passagiere, von denen viele nicht einmal ahnen, warum ihre Bahn heute fahren kann. Und wer den Zug hinauf zur Loipe bei Seefeld nehmen möchte, der kann das selbstverständlich tun.
Schneeräumen erfordert Konzentration. Wer trotzdem mal den Blick von den Gleisen hebt, kann hinter Bäumen ein wunderbares Panorama erspähen – wie hier den Blick aufs Inntal.
Gemächlich läuft der Klima-Räumer auf seinem Abstellgleis ein. Für seine Besatzung ist deshalb noch nicht Feierabend, irgendwo ist bei der Eisenbahn immer etwas zu reparieren, zu prüfen oder zu regeln; Krug etwa muss weiter an den Schreibtisch und Schneeberichte kontrollieren. Als Teil der Lawinenkommission der ÖBB entscheidet er im Winter darüber, ob Lawinensprengungen oder gar Streckensperrungen nötig werden, damit den Bahnpassagieren keine Gefahr droht. Dazu checkt Krug per Smartphone-App die Wetterdaten entlang der Strecken. Wenn richtig viel Schnee fällt, „müssen wir die eh zweimal am Tag räumen“, erzählt er.
Erst wenn der Klima-Räumer nicht mehr gegen den Schnee ankommt, weil sich dieser zu hoch türmt, wird richtig schweres Gerät aufgefahren, etwa in Form spezieller Fräsen, die Schneisen durch den Schnee schlagen.
Krugs Einsatz an diesem Morgen ist der – vorläufige – Abschluss ein paar arbeitsintensiver, schneereicher Tage: Im Januar und Februar 2022 waren rund 240 Mitarbeiter der ÖBB im Einsatz, um zwischen Wörgl und Hochfilzen, im Karwendel und Außerfern oder am Brenner im Schichtdienst die Wege frei zu machen.
Noch viele weitere Morgenstunden wird Krug deshalb in diesem und folgenden Wintern auf den Schienen statt im Bett verbringen. Und trotzdem stimmt es, was er beim Aussteigen sagt: „Das war’s.“ Für heute ist der Kampf gegen den Schnee gewonnen. Morgen geht er weiter.