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Aus guter Quelle
Urige Urgewalten: Oberhalb von Prägraten donnert die Isel besonders mächtig. Oft quert man sie über alte Holzbrücken.
Auf dem Iseltrail kann man den wilden Gebirgsbach von der Mündung bis zu seinem Ursprung am Gletscher erwandern. Unser Autor stieg mit seiner Familie hinauf. Und erlebte, dass mit der richtigen Geschichte auch auf einer mehrtägigen Wanderung keine Langeweile bei Kindern aufkommt.
Dass alle Flüsse ins Meer münden, war mir schon als Kind klar. Viel geheimnisvoller als das Ende des Stroms fand ich aber stets seinen Beginn. Natürlich, alle Flüsse entspringen einer Quelle. Aber wo genau kommt all das Wasser her? Und welche Landschaften hat es durchzogen und geprägt, bevor es an einem vorbeifließt? Auf all das gibt es einfache Antworten – aber ich schaffte es bis in mein heutiges Erwachsenenleben, die Frage geheimnis- und deshalb auch verheißungsvoll zu halten. Außerdem impfte ich sie bewusst meinen Kindern ein – ein inniges Verhältnis zum Wasser halte ich für sehr gesund. Nun fragen sie – wie ich – bei jedem Fluss nicht nur „Wo fließt er hin“ (die Antwort ist meist einfach: früher oder später ins Schwarze Meer), sondern auch: „Wo kommt er her?“
Diese Menschheitsfragen kann man nur klären, wenn man einen Fluss komplett erlebt – nur sind die leider oft Tausende Kilometer lang. Die Isel in Osttirol kann man ganz erwandern. Noch besser: Der sogenannte Iseltrail ist eine der schönsten Wanderungen Tirols – aber noch relativ unbekannt. Und so stehe ich an einem Montag im späten August – die beste Bergzeit, versicherte man mir, der ich ein Talmensch bin – bereit, die 74 Kilometer und 2.120 Höhenmeter zur Quelle zu steigen. Mein Team besteht aus meiner Frau Vera, Regina, der Fotografin, Sohn Heiner, 13, Sohn Anton, 10, und dessen bestem Freund Hannes, ebenso 10.
Die Baumgrenze: keine klare Linie, sondern eine breite Vegetationszone, in der die Bäume immer kleiner werden, schließlich nur noch Büsche wachsen. Weiter oben gibt es nur noch Wiesen.
Die Mühen der Ebene
Die Fluss-Nomenklatur besagt, dass bei einem Zusammenfluss das Gewässer mit dem längeren Lauf den weiteren Namen des Flusses bestimmt. Im Fall der Isel ist das etwas absurd. Die im Südtiroler Innichen entspringende Drau mag zwar mehr Kilometer auf dem Buckel haben, verglichen mit der schon tennisplatzbreiten Isel ist sie dann aber nur ein Rinnsal, das seitlich in jene plätschert, ihr dafür aber den Namen aufdrückt.
Das Ende der Isel ist wenig spektakulär. Die Mündung liegt im Südosten der kleinen Stadt Lienz, zwischen einer Spedition und einem Sportplatz. Die Kinder verstehen nicht, was wir hier sollen. So viel Ehre müssen wir der Isel schon erweisen, sage ich, man schaut sich Filme ja auch bis zum Ende an. Ihr Schulterzucken interpretiere ich als Zustimmung.
Je höher man steigt, desto öfter findet man den glitzernden Glimmerschiefer. Er wird vom Gletscher auch zu silbrigem Sand zermahlen.
Im unteren Lauf fließt die Isel gemächlich dahin, ähnlich etwa der Isar oder dem jungen Inn. Das Tal ist breit, Felder, Wiesen säumen das Ufer. Und immer wieder Wälder. Das kieselige Flussbett ist breit, man sieht, dass hier im Frühjahr, während der Schneeschmelze, die Isel dreimal so mächtig ist wie im Spätsommer. Zwischen den Steinen wächst ein dürres Kraut, dessen rosa Blüten im Licht flirren: die deutsche Tamariske, stark gefährdet, hier an der Isel und nur hier noch in großen Populationen erhalten. Ich erzähle es den Kindern. Ob man sie essen oder sonst was damit machen kann, wollen sie wissen. Nicht dass ich wüsste, sage ich.
Vor wenigen Minuten noch Eis
Nach einer Stunde lassen wir uns auf den Kieseln nieder, Zeit für die erste Jause, finden die Kinder. Um ehrlich zu sein, ist mein Ernährungsverhalten dem der Kinder sehr ähnlich. Zum Glück haben wir die hochkalorischen Sportriegel dabei. Dann doziere ich: Ob sie wüssten, was das Sohlgefälle sei. Keine Ahnung, noch weniger Interesse. Ich lasse mich nicht beirren: Das bezeichnet, wie steil ein Fluss von der Quelle bis zur Mündung abfalle, es lasse sich berechnen aus Höhendifferenz von Quelle und Mündung geteilt durch die Länge des Flusses. Damit hänge die Fließgeschwindigkeit zusammen. Das Sohlgefälle des Bergbachs Isel betrage 30 Promille, bei der sehr viel längeren Donau seien es nur 0,38 Promille.
Immer wieder rauschen Wasserfälle in der Ferne. Kommt man ihnen nahe, steht man im kühlen Wasserstaub.
Aber auch andere Gebirgsbäche wiesen in der Regel viel weniger auf, etwa der Lech mit 5,7. „Aha“, meinen die Kinder. Von der Quelle am Gletscher bis zur Mündung fließt die Isel meiner groben Berechnung nach in etwa vier Stunden, deswegen sei sie auch so verdammt kalt, sogar jetzt im August. Das interessiert sie dann doch.
Heiner schlägt einen Wettkampf vor, wer die Füße am längsten ins Wasser halten kann. Nach zwei Minuten geht das Prickeln erst in Ziehen, dann in Schmerz über. Heiner gewinnt.
Immer wieder erstaunlich ist das Energiemanagement der Kinder. Schnell klagen sie über das eintönige Gehen. Aber sobald gerannt wird, weil ein Stockschlag oder ein Spritzer mit Iselwasser gerächt werden muss, sind die Akkus wieder voll.
Für uns Erwachsene geht es eher ums meditative Schreiten. Die Gespräche verstummen, das stetige Rauschen der Isel wird zu einer neuen, viel eindrücklicheren Stille. Immer wieder öffnet sich der Blick auf graue Giganten wie den Hochschober zu unserer Rechten. Ich mache die Kinder auf die Vegetationszonen aufmerksam, unten das Weideland, das vor der Herbstmahd sattgrün ist, dann der noch dunklere Wald, darüber dann hellgrüne Bergwiesen und oben das Gestein.
Ihre Dammbaupläne müssen die Kinder aufgrund der Fließgeschwindigkeit der Isel schnell aufgeben.
Ob wir auch so weit hinaufkämen, wollen sie wissen. Auf jeden Fall weit bis über die Baumgrenze, meine ich. Dieses Wort verfängt bei ihnen. Lange starren sie nach oben, wo Latschenwald ausjüngt. In den frühen Abendstunden der ersten beiden Tage kommen wir in den Hotels an. Wir Erwachsenen fallen auf die Betten wie überreife Birnen. Die Jungs sind plötzlich wieder hellwach. Vom Balkon aus höre ich, dass sie in den Wellnessbereich einfallen. Ich bedaure die Gäste, die Ruhe suchen, habe aber nicht die Kraft zu intervenieren.
Der feuchte Wald
Hinter Matrei in Osttirol wird es steil. Den Wasserfall, „Virgener Katarakt“ genannt, in einer Verengung des Tales hören wir von Weitem. Die Isel rauscht nun nicht mehr, sie donnert. Ab und zu kann man einen Blick auf die Steinbänke erhaschen, gegen die das Wasser schießt. Sie sind glatt poliert wie Spiegel. Anton will wissen, was passieren würde, wenn man in die Becken mit dem tobenden Wasser hineinfiele. Heiner erklärt in abgeklärtem Ton, dass man vielleicht eine Minute überleben würde – wenn man Glück hätte. Alle nicken wissend.
Wasserfälle wird es nun regelmäßig geben, auf zum Teil neu errichteten Plattformen steht man dann direkt über dem wütenden Brausen. Am imposantesten ist es oberhalb des Ortes Prägraten. Das Wasser donnert hier mit einer solchen Kraft nach unten, dass das ganze Tal sich mit dichtem Dunst füllt. Die Sonne bricht sich im Wasserstaub in einem strahlenden Regenbogen. Im selben Augenblick zücken Heiner und ich das Telefon, um zumindest ein Abbild mitzunehmen.
Und es bleibt magisch: Der typische alpine Nadelwald ist einem dunklen, dichten Laubwald gewichen. Im Nebel der Katarakte gedeihen hier Bäume, die auf dieser Höhe eigentlich nicht mehr vorkommen: Erlen und Vogelbeeren. Im Gebüsch darunter wachsen Johannis- und Himbeeren. Ein Kuckuck ruft. Und tanzten im dunstigen Schatten nun Elfen oder Wichte, würde es uns auch nicht wundern.
Am frühen Nachmittag erreichen wir die Baumgrenze, die die Kinder so fasziniert hatte. Die Latschenkiefern werden erst krummer, dann kleiner, dann sind sie nur noch hüfthoch. Und plötzlich gibt es nur noch Wiesen und gleißenden Sonnenschein. Die Isel ist weit unter uns, ihr gleichmäßiges Rauschen vermischt sich mit dem verwaschenen Bimmeln der Kuhglocken vom Hang gegenüber.
Eincremen nervt immer und alle. Aber oberhalb der Baumgrenze braucht man schon Lichtschutzfaktor 50.
Der Weg ist steil, die Clarahütte, unsere letzte Übernachtung, ist noch zwei Stunden entfernt. Und natürlich haben wir: Durst. Die Kinder haben die Idee, zur Isel abzusteigen und die Flaschen zu füllen. Ein Ehepaar, an dessen Fersen wir uns geheftet haben, erfahrene Berggänger, die weniger schnaufen als wir, winken ab. Viel zu „milchig“ sei die Isel hier, das kratze im Hals. In der Tat ist die Isel nicht gerade klar, sondern weißlichgrau. Wir werden noch erfahren, wieso. In wenigen Minuten komme ein Zufluss, so die Bergmenschen, der sei klar und gut. So machen wir es. Maximal vier Grad, schätzt Heiner. Anton sagt, er habe noch nie besseres Wasser getrunken. „Luxuswasser“ ist der Ausdruck des Tages.
Am späten Nachmittag erreichen wir die Clarahütte auf gut 2.000 Metern. Es ist unsere erste Nacht in einer Berghütte. Schnell merken wir, dass eine alpinistische Ernsthaftig- und Leutseligkeit herrscht. Die Touren des nächsten Tages werden akribisch geplant, man schont sich und trinkt keinen über den Durst.
Gemütlich, heimelig, mit freundlichem Bergvolk gefüllt: die Clarahütte.
Kaiserschmarrn ist immer ein Gedicht, auf 2.000 Metern schmeckt er noch einmal köstlicher.
Dafür herrscht überall das vertraute Du, und Neulinge werden gern mit Tipps versorgt. Abends klampft die Wirtin Karin noch kurz Gassenhauer wie „Stairway to Heaven“. Die Jungs spielen Schafkopf, mir steigt schon das eine Bier zu Kopf. Mein Schlaf ist löchrig wie ein Emmentaler. Um halb sechs bin ich wach und sehe, wie die Sonne langsam ihre ersten Strahlen in das noch nachtdunkle, eiskalte Tal streckt.
Schnelles Frühstück – und noch bevor die Sonne die Hütte erreicht, brechen wir auf. Wir haben Glück, dass wir die letzte Etappe des Iseltrails überhaupt gehen können. Einige Wochen zuvor ging eine Mure ab im Umbaltal, wie der oberste Teil des Iseltals heißt. An einem Tag im Juli hatte es zuerst den ganzen Tag geregnet, als dann noch Hagel hinzukam, löste sich das durchweichte Geröll, das auf dieser Höhe nur noch von Graswurzeln gehalten wird, rauschte bergab und riss die kleine Metallbrücke oberhalb der Hütte mit.
Ehrfürchtig betrachten wir die Betonfundamente. Da die Brücke fehlt, müssen wir auf der rauen Seite des Flusses gehen. Erst geht es durch taunasse Wiesen, dann schwindet das Gras, es bleiben Polster gelber Blumen, schließlich Moos, Geröll und blanker Fels, die man mithilfe von Stahlseilen erklimmt. Wie Gämsen springen die Kinder hinauf, wir hecheln hinterher.
Dann sehen wir ihn: den Gletscher. Wie ein erstarrter grauer Kuchenguss lappt er in eine Hochebene, die an eine Mondlandschaft erinnert. Die Kinder fänden eine Rutschpartie auf dem Eis gut. Aber die schmiergelpapierraue Oberfläche des Eises schreckt sie ab.
Gletschertränen
Den Ursprung der Isel müssen wir nicht lange suchen. Am Fuß des Eises öffnet sich eine kleine Höhle: das Gletschertor. Wir kriechen in einen Raum, gerade so hoch, dass wir stehen können. Die Decke leuchtet mattblau, um uns tropft es tausendfach. Neben uns rauscht die Isel unter dem Eis hervor.
Nun klärt sich auch die Frage, wieso sie so milchiggrau ist. Ich erkläre den Kindern, dass das die „Gletschermilch“ sei, gelöstes Gesteinsmehl, das der Gletscher mit seinen Hunderten Tonnen vom Berg abschabt. Der Temperaturtest fällt sehr kurz aus. Anton probiert das Wasser und stellt sehr treffend fest: schmeckt wie geschmolzener Eiswürfel. Heiner, der mit seinen 13 Jahren vom Klimawandel mehr weiß, als ihm lieb ist, fragt, wie lange es den Gletscher hier noch geben werde. Ich sage, dass dieser Gletscher relativ hoch liege, dass er also jeden Winter mit neuem Schnee gefüttert werde. Aber auch die optimistischsten Hochrechnungen, füge ich hinzu, gehen davon aus, dass die meisten alpinen Gletscher bis zum Ende des Jahrhunderts verschwunden sein werden.
Die Kinder sagen nichts, aber ich merke, dass sie der Satz trifft. Schnell lenke ich ab: Wie lange dauert es wohl, bis die Tropfen hier im Schwarzen Meer sind? Reine Mutmaßungen schießen ins Feld, irgendwas zwischen einer Woche und einem Monat. Dass wir noch einen ganz schön langen Abstieg vor uns haben, weiter noch als bis zur Clarahütte, werden sie später schon selbst merken. So viel ist klar: das Wasser ist schneller unten im Tal als wir.