Wilde Bande
Wandern gilt als Hobby der Erwachsenen oder gar Senioren. Warum eigentlich? Wir haben ein Dutzend Jugendliche durchs Karwendel begleitet – und die Berge mit neuen Augen gesehen.
Sommer und Schnee: Die Wandertruppe macht nach dem Erklimmen des Stempeljochs eine wohlverdiente Pause.
Obwohl an diesem Sommermorgen zwölf Jugendliche gleichzeitig vom Stempeljoch hinunterklettern, ist es ganz still. Nur der Wind pfeift an der steilen Felswand entlang. Ab und zu tritt jemand Geröll los, dann hört man ein lautes „Stein!“. Die zwölf Köpfe sind gesenkt, die Blicke auf die Füße gerichtet. Die Wolken hängen tief und verschlucken den Weg ein paar Hundert Meter unterhalb der Gruppe. Und je näher die Jugendlichen in ihren bunten Fleecejacken dem Nebel kommen, desto weiter zieht er sich zurück. Langsam tauchen so die schroffen Karwendelgipfel und das Halltal auf. Jedes Mal, wenn die Wanderer den Kopf heben, weitet sich der Blick ein wenig mehr.
Die Jugendlichen nehmen an einer Tour der Alpenvereinsjugend Klagenfurt teil. Alle sind zwischen 14 und 21 Jahre alt, begleitet werden sie von den Gruppenleitern Viktoria und Christoph, die selbst nur wenig älter sind. In sechs Tagen gehen sie den Karwendelhöhenweg, von Reith bei Seefeld bis Scharnitz.
Die meisten regionalen Alpenvereine haben ein eigenes Kinder- und Jugendprogramm. Das öffnet die Berge auch für junge Menschen, die sich Wintersporturlaube und Fernreisen selten leisten können. Die Angebote sind beliebt. Aber natürlich fragt man sich, warum diese jungen Menschen in den Sommerferien in den Bergen bis zu zehn Stunden am Tag auf den Berghängen schwitzen, während ihre Freunde am Strand entspannen oder die Nächte durchfeiern?
Da ist Kiki, die noch nie wandern war. Oder Maria, die mit Bergen bisher bloß Familienurlaube verband. Und Paul, der nur dabei ist, weil Corona seine Ferienpläne umgeschmissen hat. Am Ende der Woche werden sie alle etwas Neues über sich gelernt und Dinge geschafft haben, die sie sich vorher nicht zugetraut hätten. Wie es in den Bergen häufig passiert.
Die Eltern sind weit weg
Die 15-jährige Kiki, ein blondes Mädchen aus Wien, hat den größten Rucksack, der sie auf dem steilen Weg bei jedem Fehltritt schwanken lässt. Immer wieder richtet sie sich auf, rutscht ab, richtet sich noch mal auf. Nach dem dritten Sturz klettert sie im Sitzen weiter nach unten. „Auf dem Schotter trittst du am besten mit dem flachen Fuß auf“, sagt Anna, die ein wenig mehr Bergerfahrung hat, wie man an ihren Wanderschuhen erkennt, die sie seit ihrer ersten Alpenüberquerung vor drei Jahren trägt, „gut eingelaufen halt.“ Nach einer Stunde erreicht die Gruppe einen Pfad, der durch niedrige Büsche führt. Auf dem Wegweiser steht: Wilde-Bande-Steig. „Wilde Bande, das sind wir!“, ruft der kleinste der Gruppe.
Ohne Eltern unterwegs zu sein, da fühlt man sich frei, unabhängig und erwachsen. An manchen Stellen verstärken die Berge dieses Gefühl von Freiheit noch: Täler, Schluchten, Gipfel, Abenteuer eben. Aber die Berge haben auch ihre eigenen Regeln: keinen Müll hinterlassen, keine Steine lostreten, an herausfordernden Stellen nicht übermütig werden. Auf der Strecke unterstützen die erfahrenen Gruppenmitglieder den Bergnovizen. Oft ist es Paul, mit 18 einer der ältesten der Gruppe, der den anderen über Steige oder Felsspalten hilft.
In den Bergen lernt man sich schnell und gut kennen. Oliver, Kiki und Anna (von links nach rechts) im Schlafsaal der Pfeishütte.
„Im Frühtau zu Berge …“ ist nicht jedermanns Lieblingslied. Aber die Teilnehmer der Bergfreizeit hatten kein Problem mit dem frühen Aufstehen – hier verlassen sie die Pfeishütte auf dem Weg zum Stempeljoch.
Anna hat mehr Bergerfahrung als die meisten anderen in der Gruppe: 2018 machte sie zum Beispiel eine Alpenüberquerung. Deshalb sind ihre Wanderschuhe „gut eingelaufen“.
Eigentlich waren die Berge schon immer wichtig für ihn, erzählt Paul. Mit 12, 13 war er oft mit einem Freund wandern, manchmal jedes Wochenende. Er war auch schon bei mehreren Touren der Alpenvereinsjugend dabei, das letzte Mal vor drei Jahren. Dann waren seine Freunde in den Ferien nicht mehr mit ihren Familien unterwegs, sondern alle in Wien, sie fingen an mit Feiern und Festivals. „So viel Ablenkung“, sagt Paul, „dass ich mir immer seltener Zeit für das Bergsteigen genommen habe.“ Jetzt merke er, sagt Paul, wie sehr ihm die Berge gefehlt haben. Auf dem Wilde-BandeSteig spricht er mit Christoph darüber, wie der zum Jugendleiter wurde. „Ich hätte schon echt Lust, das auch zu machen“, sagt Paul.
Alpenverein-Sommercamps
Wandern, Klettern, Raften: Die österreichische Alpenvereinsjugend veranstaltet jeden Sommer mehr als 50 Sommercamps auf Zeltplätzen oder Hütten. Mehr Informationen Das umfangreiche Kurs- und Freizeitprogramm der Jugend des Deutschen Alpenvereins findet man unter www.jdav.de.
Auch Maria fährt seit Jahren mit ihrer Familie in den Wanderurlaub. Aber in diesem Sommer wollte sie nicht schon wieder an den gleichen Ort reisen. „Ich wollte etwas anderes, etwas Eigenes in den Bergen machen.“ So kam die 16-Jährige auf die Tour der Alpenvereinsjugend: nur junge Menschen aus ganz Deutschland und Österreich, die sich vorher nicht kannten. „Ich liebe Wandern mit vielen Menschen. Grüppchenbildung gibt es nicht, weil man eben mit der Person redet, die das gleiche Tempo geht“, sagt Maria. „Dadurch komme ich hier auch mit denen ins Gespräch, die anders sind als ich.“ Hoch auf die Berge. Raus aus der sozialen Bubble.
Pokerface Paul (hinter den Karten) ist mit 18 einer der ältesten der Gruppe. Während er am Spieltisch ehrgeizig ist, hilft er draußen den Wanderkameradinnen und -kameraden auch mal über Steige und Felsspalten.
Schwieriges Gelände: Beim Abstieg vom Stempeljoch trifft die Gruppe auf einen nur teilweise befestigten Weg – und muss auf Schotter improvisieren.
Die kurze Pause auf dem Wilde-BandeSteig kann man nutzen, um die Garderobe zu richten – oder die Kurznachrichten zu aktualisieren.
Weit oben, weit weg von den Eltern: Für viele Jugendliche wie den 13-jährigen Vincent aus Wien ist die Hüttentour ein großes Abenteuer.
Höhepunkt der Höhenangst
Dass sie Höhenangst hat, wusste Kiki schon vor der Tour. Aber im Stress vor der Abreise hatte sie kaum Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Am ersten Tag ging es direkt 1.000 Höhenmeter nach oben. Am Frau-HittSattel, einem steilen An- und Abstieg am dritten von sechs Tagen erreichte ihre Höhenangst dann den Höhepunkt: „Ich wollte mich nur am Felsen festklammern und heulen.“ Die Gruppe feuerte sie an, einfach einen Schritt nach dem anderen zu machen, bloß nicht zu lange stehen zu bleiben. „Da hat sich die Angst langsam gelöst. Ich war so stolz wie nie.“ Seitdem sieht man ihr selbst an steilen Abhängen die Angst nicht mehr an. Dann ist sie nur kurz stiller als sonst, bis die Stelle geschafft ist. „Wandern ist wie eine Geburt. Mittendrin ist es mühsam, aber wenn man an der Hütte ankommt, also das Baby im Arm hält, ist man so glücklich. Und will am nächsten Tag gleich noch mal.“ Kiki grinst breit. „Die Metapher ist mir beim Wandern eingefallen, da hat man viel Zeit zum Nachdenken.“
In einer kurzen Pause ruft Kiki ihre Mutter an. „Hallo Mama, mir geht’s gut, wir sind jetzt“, sie macht eine kurze Pause und schaut sich um, „irgendwo.“ Dann ist der Empfang weg. Auf der Tour zu telefonieren oder Nachrichten zu verschicken, funktioniert meistens nicht. Der Kontakt mit Freunden und Familie muss bis abends auf der Hütte warten. Nicht erreichbar zu sein und niemanden erreichen zu können, das gibt es in Europa nicht mehr an sehr vielen Orten. „Ich mag, dass alle wissen, dass ich eh kein Netz habe“, sagt Maria, „ich habe auch gar nicht das Gefühl, dass ich dadurch irgendwas verpasse.“ Vielleicht sieht man auch deswegen so wenige Smartphones während der Wanderung. Selbst an den Stellen des Höhenwegs, die einen mit ihrer Aussicht zwingen anzuhalten, holt kaum jemand das Handy raus.
Abends im Matratzenlager sieht es nach zwei Minuten so aus, als wären die zwölf Rucksäcke explodiert. Von den gespannten Leinen hängen T-Shirts und Regenjacken, unter den Betten ragen Wanderstöcke hervor. Es riecht nach nassem Stoff und dem Holz der Hütte. Drei der Mädchen überlegen laut, ob sie noch duschen sollen. „Ich glaube ich lasse es. Heute früh waren meine Haare immer noch nass“, sagt eine. „Die ganze Woche nicht duschen ziehe ich durch“, sagt Kiki. Beim Bergsteigen geht es eben nicht nur darum, neue Höhenrekorde aufzustellen, sondern sich auch einen Kurzurlaub vom Alltag mit seinen Zwängen und Konventionen zu gönnen. „Es ist mir beim Wandern plötzlich völlig egal, wie ich aussehe“, sagt Maria. „Wenn man sich ins Gras legt, sind die Haare eben zerzaust. Man kann auf der Hütte im verschwitzten T-Shirt zum Abendessen. Das mache ich sonst nie, und es ist so schön.“
Ein Outdoorpool auf über 2.000 Meter Höhe. Die Aussicht ist toll, aber die Wassertemperatur macht das Bad zur Mutprobe.
Niemand kümmert sich darum, wer der oder die Schnellste beim Bergsteigen ist – aber beim Kartenspiel Uno wollen Kiki (links) und Paul immer gewinnen (und lassen sich sogar eigene Regeln einfallen).
Die Berge gehörten schon immer der Jugend
Beim Abendessen sind alle hungrig, so hungrig wie man im Alltag eigentlich nie ist. In bunten Sportshirts und Fleecejacken, dazwischen ein beiger Kapuzenpulli, sitzen die Jugendlichen in dem kleinen Raum der Hütte und klappern ungeduldig mit dem Besteck. Der Holzofen hat den Raum schnell aufgeheizt, schwere Luft, rote Wangen. Auf den Hütten ist das Essen rationiert, zweite Portionen gibt es nur, wenn am Ende etwas übrig ist. Viktoria, die Jugendleiterin, fragt nach Nachschlag. „Zweimal bitte!“, ruft Paul in die Küche. Ein Junge isst die Reste des Rinderheubratens, den sein Sitznachbar übrig gelassen hat.
Nach dem Essen geht ein Teil sofort ins Bett, der Rest spielt Uno mit eigenen Regeln, die sie jeden Tag verändern und erweitern. Jeden Abend ist um zehn Uhr Hüttenruhe. Aber da schlafen fast alle längst im Matratzenlager. Für die Dinge, die man erwartet, wenn zwölf Jugendliche Urlaub machen – heimliches Betrinken, laute Musik, lange Nächte – sind sie zu erschöpft. An manchen Tagen gehen sie noch früher ins Bett, um die freiwillige Gipfeltour bei Sonnenaufgang nicht zu verpassen.
Die meiste Zeit ließen die Jugendlichen ihre Smartphones in den Rucksäcken stecken, nur bei dieser stylischen Hüttenkatze konnten die wenigsten widerstehen.
Unter dem Lafatscherjoch überwindet die Gruppe auch ausgesetzte Stellen – aber die Drahtseilsicherung und die Guides geben Sicherheit auch im Nebel
Eigentlich ist das alles auch nicht überraschend. Das Klischee, dass Eltern wandern und ihre lustlosen Kinder mitziehen, passt eh nicht zur Tradition des Bergsteigens. Im 18. und 19. Jahrhundert waren es ja vor allem die jungen Menschen, die herausfinden wollten, wie die Welt von oben aussieht, und begannen, die Berge zu besteigen. Die ersten Bergsteiger waren wenig älter als die Jugendgruppe und suchten immer neue Wege zu unberührten Gipfeln. Damals hätte niemand die Eltern oder Großeltern losgeschickt. Die sollten schön im Tal bleiben.
Heute ist man als Bergsteiger zwar nicht mehr der Entdecker, der neue Steige in den Felsen schlägt. Aber wenn die beiden Jungs, die als Erste den Aussichtspunkt über das nächste Tal erreichen und dann minutenlang nur stehen und staunen, oder wenn bei einer Pause in der Sonne einer nach dem anderen an den Felsen hochklettert, weil jemand dort oben ein kleines Wasserbecken aus geschmolzenem Eis entdeckt hat, und sie dann springen und kreischen, um zitternd und grinsend wieder aus dem Wasser zu steigen – dann gibt es sie noch, diese Momente in den Bergen, in denen man das Abenteuer spürt.
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