Alles im Fluss
Fotos: Frank Stolle
Die Lebensader Tirols beginnt an der Schweizer Grenze als wilder Gebirgsbach und rauscht hinter Landeck mit Wucht durch die Imster Schlucht. Doch was kann man auf dem Inn erleben, wenn er ruhig durchs weitere Land strömt? Wir haben den Fluss bis zur Grenze in Kufstein auf dem Kanu befahren.
Einerseits ist der Inn in Tirol allgegenwärtig. Die Hauptstadt ist nach ihm benannt. Besucher kennen ihn aus dem Verkehrsfunk, wenn sie auf die Inntalautobahn einfädeln. Der Oberlauf hinter der Schweizer Grenze ist ein Hotspot für Wildwassersport und mit der Imster Schlucht bietet der Fluss ein spektakuläres Rafting-Highlight. Doch danach verschwindet der Inn auf erstaunliche Art und Weise aus der Wahrnehmung der Tiroler und Urlauber.
Die 140 Kilometer lange Flussstrecke von Haiming bis zur bayerischen Grenze hinter Kufstein sieht man meist nur aus dem Autofenster, ein breiter Fluss mit von Sedimenten trübem Wasser. Wenig später hat man den Anblick meist schon wieder vergessen. Vielleicht brauchte es, um die Aufmerksamkeit wieder auf den wichtigsten Fluss Tirols zu lenken, eine Verordnung der Landesregierung: 2018 wurde festgelegt, dass nach der Imster Schlucht auf 80 Kilometern „keine Unterbrechung des Wasserkontinuums“ erlaubt sei. Der begradigte Inn unter Naturschutz! Wer hätte das gedacht? Keine Kraftwerkprojekte mehr, keine weitere Verbauung. Aber: Gibt es auf dem schon lange in ein berechenbares Bett gezwungenen Fluss überhaupt noch Natur? In Sichtweite von Raststätten, hinter Schallschutzwänden und Mauern, die die Städte vor dem Schmelzwasser schützen?
Tirol oder Kanada? Die Schluchten des Oberlaufs.
An einem knallheißen Augustwochenende mit stahlblauen Sonnenstunden und Gewitterwolkentürmen, die sich entladen und wieder verschwinden, suchen wir nach einer Antwort. Wir bepacken zwei Schlauchkanadier mit Proviant und Badesachen und stoßen uns in Haiming vom Ufer ab. Mit wenigen Paddelschlägen sind wir in der Mitte der Strömung. Im selben Moment ist die ganze Infrastruktur nichts als Beiwerk. Die Reisegeschwindigkeit gibt der Fluss vor, ständig ändern sich die Perspektiven auf die Mieminger Kette, plötzlich ragt die Martinswand himmelhoch ganz nah neben uns auf. Und während wir rätseln, welcher Berg, welches Städtchen, welcher Zufluss das nun wieder sein mag, die da hinter einer Biegung auftauchen, verstehen wir, wie der Inn in den vergangenen Jahrmillionen diese Landschaft geprägt hat, die auf dem Weg zum Bergsport in einem der Nebentäler so oft nur die Kulisse auf der Anreise ist.
Strecke
Aus dem Engadin fließt der Inn bei Martina über die Grenze zwischen der Schweiz und Tirol und wird im weiteren Verlauf bis nach Bayern hinter Kufstein von den Gletscherbächen der großen Täler gespeist. Der Tiroler Oberlauf ist schweres Wildwasser, die Imster Schlucht wird viel von Rafts befahren. Die Paddelstrecke von Haiming bis Kufstein ist in zwei Tagen bequem mit dem Kanu zu bewältigen.
Die letzten Vorbereitungen für die große Fahrt an der Einsatzstelle bei Haiming.
Wir sind dabei allein. Paddelführer für Tirol schildern Kajakstrecken am oberen Lech und Familientouren über den Achensee. Doch über die längste Strecke des Inns lässt sich kaum mehr finden als ein paar Notizen im Paddelführer des Deutschen Kanuverbandes: „Ab Haiming ist der Inn bis Kufstein leichtes Wildwasser. Leider stark reguliert.“ So war schon die Vorbereitung dieser Befahrung des zivilisiertesten Flusses des Landes ein kleines Abenteuer.
Beim Wassersportverleih „Faszinatour“ in Haiming hatten wir uns das Material ausgeliehen. Marcel Pachler, der hier mit seinem Team täglich Raftingtouren durch die Imster Schlucht veranstaltet, musterte uns kurz, warnte noch vor einem Schwall unter einer Brücke. „Danach geht’s dann mehr oder weniger geradeaus.“ Tatsächlich bleibt die Stromschnelle kurz nach dem Start neben einer vertrackten Stelle bei Brixlegg, fast 100 Kilometer später, die einzige paddeltechnische Herausforderung. Der Rest ist Staunen. Wie sich dieser rauschende Fluss ins Zentrum unserer Wahrnehmung drängt, während wir durch weite Kurven an Auwäldern entlang in Richtung Innsbruck treiben. Wir sehen Reiher, die mit Flügelschlägen in Zeitlupe das Ufer wechseln. Eine Biberschnauze, die gegen die Strömung anschwimmt. Pferde am Flussufer neben einer Ranch wie in einem Western. Im Aufwind kreisen Raubvögel.
Wasser zu Wasser: Plantsch-Stimmung am Stöttlbach, der bei Stams in den Inn mündet.
Plötzlich sind wir in Innsbruck. Und so schnell fast hindurch, dass wir es gerade noch schaffen, neben der hohen Ufermauer an der Markthalle anzulegen. In Innsbruck und Kufstein, den größeren Städten am Inn, entdeckt man den Fluss gerade erst als lebenswerte Bereicherung des urbanen Raumes wieder. Wir freuen uns über einen Coffee-to-paddle, beantworten ein paar neugierige Fragen („Ihr wollt nicht ernsthaft bis Kufstein?“), fühlen uns unter den quirligen Städtern jedoch bald ein wenig deplatziert.
Auch vom Inn aus wirkt Innsbruck sehr idyllisch.
Unsere Stammesgenossen sind die anderen Flussmenschen. Wobei außer uns und einer Gruppe Schwimmer in Neoprenanzügen, die sich mit einem Tragl Bier ratschend mit der Strömung tragen lassen, tatsächlich niemand AUF dem Fluss unterwegs ist. Am Ufer hingegen sieht man, was das Wasser hier – und überall auf der Welt – mit Menschen macht: Es macht uns lebendig. Familien waten durch klare Bäche, die über die Felsen in den Inn springen. Wir passieren eine Kiesbank voller Nackter. Eine Wagenburg aus Pick-ups, die ein Reggae-Camp errichtet haben. Und an einem Hochufer, auf einem Ausguck neben der Autobahn, einen temporären Rock’n’Roll-Pavillon: An einem Lagerfeuer kämpfen dicke Boxen gegen das Summen der Autobahn an.
Wer keine Lust auf Camping, trockene Wechselwäsche im Gepäck und ein gutes Gefühl für Anlegemanöver hat, findet im Schlosshotel Mitterhart in Vomp eine prächtige Unterkunft für die Nacht. Und begegnet den verbleibenden 60 Kilometern bis zur Festung Kufstein ausgeruht. Denn auf der zweiten Streckenhälfte wird die Fahrt – bis auf die tückische Brixlegger Brücke – deutlich ruhiger. Nach dem Wehr in Kirchbichl nimmt das Wasser zwar noch einmal Fahrt auf, doch vor Kufstein staut es sich auf langen Kilometern, die Arme werden von Schlag zu Schlag länger, und plötzlich kommen einem die Autos – obwohl sie nur 100 Stundenkilometer fahren dürfen – recht rasant vor. Aber eigentlich kann die Fahrt nicht lange genug dauern: Das hat uns der Inn, diese wilde Natur inmitten der Zivilisation, in nur zwei Tagen eindrucksvoll in Erinnerung gerufen.
Augen auf und durch: Die tückische Stelle hinter der Brücke bei Brixlegg.
140 Kilometer später: müde Arme – und der erste Blick auf die Festung Kufstein.
Mehr zum Inn
Wir haben mit Elisabeth Sötz – Biologin und Alpenfluss-Expertin beim WWF Österreich – über die hohe Wasserqualität des Inn gesprochen. Hier geht es zum Interview.