Ohne jeden Stress – Ein Dorf für Winterwanderer
Woran ich mich erinnern werde: an den Geschmack von Zirbenschnaps, der sich so köstlich mit der frischen Gipfelluft vermischte. An die Geschichte mit den Mülltüten natürlich. Und an den Schnee. Der immer da, aber ständig anders war: in den Schattenpassagen hart und glasig. An den Südhängen saftig, schwer, vollgesogen mit Märzsonne. Weiter oben plötzlich trocken und staubfein, dann wieder der stumme Schnee, der die Beine bis zu den Knien verschluckt und in einen Mantel der Geräuschlosigkeit hüllt. Das rhythmische Knirschen plötzlich verschwunden. Stille. Und ein Moment mit einer plötzlichen Erkenntnis: So etwas hab ich noch nie erlebt. Denn an den Füßen hatte ich diesmal nicht etwa Ski, sondern Bergschuhe.
Winterwandern – das Wort klingt gleichzeitig fremd und vertraut. Auch mein Freund Nico versteht erst mal nicht, was ich vorhabe: „Also leihen wir uns Schneeschuhe?“ Nein, wir gehen einfach wandern. Nur eben im Winter. Ob das denn so einfach gehe? Warum denn nicht? Im Sommer ist es für viele das Normalste der Welt, die Wanderschuhe in den Kofferraum zu schmeißen und den nächsten Berg anzusteuern. Sich in der freien Natur bewegen, die Alpenwelt genießen, Zeit mit Freunden und Familie verbringen, den Kopf freibekommen – kann man das nicht auch im Winter haben? In den vergangenen Jahren wurden in Tirol immer mehr Winterwanderrouten eingerichtet, gespurte Wege durch den Schnee, die einen leiseren, behutsameren Wintertourismus möglich machen. Wie fühlt sich das an? Wir – das sind meine Freunde Nico, Jana, Andi und ich – möchten es herausfinden und machen uns für ein Wochenende auf nach Kartitsch in Osttirol.
Geht das? Auf den gespurten Wegen hat man auch ohne Spikes guten Halt.
Hier gibt es was zu sehen: Nico, Jana, Andreas und unser Autor Wolfgang (re.) über Kartitsch.
Das gemütliche Tempo lässt viel Zeit für gute, lange Gespräche.
Der erste Tag: Wir wollen die komplette Schleife des Hollbruckertalwegs laufen. Auf der Wanderkarte sieht das ganz einfach aus. Aber weil von einem plötzlichen Wintereinbruch im November noch viele umgefallene Bäume den Weg versperren, ist nur ein Teil von der Pistenraupe gespurt. Dann zeigt der Wegweiser, der gerade noch so aus der Schneedecke hervorguckt, in Richtung endloses Weiß. Wir folgen ihm, stapfen für ungefähr fünf Meter durch den hüfthohen Schnee, dann geben wir auf. Keine Chance. Das ist die erste Erkenntnis: Einfach mal draufloslaufen, sich jenseits der Winterwanderwege seine eigene Route suchen – das geht ohne Schneeschuhe nicht. Unser Frust hält sich in Grenzen: Das Wochenende steht schließlich nicht im Zeichen der sportlichen Herausforderung, wir wollen gemeinsam eine entspannte Zeit verbringen.
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Wir kehren also auf den gespurten Weg zurück, auf dem wir seit eineinhalb Stunden unterwegs sind, nehmen die direkte Route zu der kleinen Ansammlung von Häusern – laut Karte das Dorf Hollbruck. Dort angekommen, huschen wir in die warme Stube im Gasthaus „Schöne Aussicht“ und belohnen uns für unsere Faulheit mit einem Stück hausgemachtem Apfelstrudel.
Auf dem Rückweg erstrahlt das beschauliche Kartitsch in der goldenen Spätnachmittagssonne. Der Mond, der an diesem Tag besonders früh aufgeht und ungewöhnlich groß erscheint, schaut milchweiß hinter den Baumwipfeln hervor. Man kann gut nachvollziehen, wie jemand mal auf die Idee kam, dass hier ein gutes Fleckchen wäre, um ein Haus zu bauen. Am ersten Tag unseres Winterwanderwochenendes sind wir weder besonders hoch noch besonders weit gekommen. Die Stimmung ist trotzdem – vielleicht auch deswegen – hervorragend: Ohne großes Ziel haben wir den Tag genossen, uns treiben lassen, Schneeballschlachten veranstaltet und Baumringe gezählt. Ich muss an den Angler denken, der den ganzen Tag ohne Köder am Haken am Weiher sitzt, um am Abend mit leeren Händen und doch hochzufrieden heimzukehren. Ein Bild, das mir in diesem Moment sehr nahe ist.
Der Gipfel für den nächsten Tag ist schon im Blick.
Hausgemachter Apfelstrudel im Gasthof Schöne Aussicht in Hollbruck.
Wo nicht gespurt wurde, ist ohne Schneeschuhe kein Durchkommen.
Das beschauliche Kartitsch in der Spätnachmittagssonne.
Ein Dorf für Winterwanderer
Das kleine Kartitsch in Osttirol ist das erste Winterwanderdorf in Österreich. Neun eigens angelegte Wege führen durch eine ansonsten unberührte Winterlandschaft. Die Bedingungen sind ideal: Kartitsch liegt auf über 1.300 Meter und hat mit die meisten Sonnenstunden in ganz Österreich.
Weitere Informationen:
Osttirol Tourismus
A-9900 Lienz
Telefon +43.50.212212
www.winterwanderdorf.at
Der nächste Morgen, die Bergschuhe sind schon wieder geschnürt, aber Andi hat eine beunruhigende Beobachtung gemacht: „Wir müssen uns beeilen. Da hinten zieht’s zu.“ Er deutet auf ein Wölkchen, das einsam und verloren am strahlend blauen Himmel steht. Wir grinsen, wissen wir doch, was für ein unverschämtes Glück wir haben, einen so herrlichen Wintertag in den Bergen verbringen zu können.
Wir haben unsere Lektion von gestern gelernt und uns für heute eine Tour vorgenommen, die vollständig gespurt ist. „Die Hausrunde“ auf den Dorfberg, wie unsere Wirtin vom Hotel Garni Monte meinte: gute zehn Kilometer in fünf Stunden. Auf den gespurten Winterwanderwegen kann man den Kopf abschalten: Es ist klar, wo es langgeht, Abkürzungen spielen keine Rolle, der feste Schnee bietet auch normalen Bergschuhen guten Halt. Kehre um Kehre schrauben wir uns nach oben, die prächtige Stille wird nur ab und an vom spöttischen Krächzen der Bergdohlen unterbrochen. Das Gehen tut gut, es beschäftigt, ohne abzulenken: Wir führen lange Gespräche, zu zweit, alle gemeinsam, und zwischendurch stellt sich das befriedigende Gefühl ein, endlich mal wieder Zeit für ein ausführliches Update mit den Freunden gefunden zu haben.
An einem überdachten Bänkchen machen wir Rast, stärken uns mit getrockneten Aprikosen und heißem Kräutertee. Ein kleiner Eiszapfen hängt an der Ecke des Dachs, tropft in unregelmäßigen Abständen, glitzert und schimmert im Sonnenlicht. Dahinter erstreckt sich die unberührte Winterlandschaft, jeder Baum mit einem weißen Mützlein, eine Welt in Watte. Ich verliere mich in dem Anblick, merke, dass ich stundenlang das friedliche Weiß betrachten könnte. „Wie am Meer oder am Lagerfeuer!“, kommt es mir plötzlich. Es entbehrt nicht einer leichten Ironie, dass ich den Winter noch nie so intensiv wahrgenommen habe wie an diesem Tag – war ich doch bisher davon überzeugt, dass verschneite Berge ohne Ski keinen Sinn ergeben. Aber das gemächliche Wandern gibt mir Ruhe, ohne rasenden Puls oder pfeifenden Abfahrtswind kann ich mich voll und ganz auf den Winterzauber einlassen.
B-Note: Wer macht den schönsten Schneeengel?
Kopfüber ins Glück: Der unberührte Schnee ist wunderbar weich – aber nicht weniger kalt.
Die Steigung ist auf den Winterwanderwegen moderat, aus der Puste kommt man nur selten.
Über zwei Stunden Bergaufgehen ändert sich die Landschaft langsam, aber beständig: Wir haben die Baumgrenze erreicht, der Blick reicht weiter, der Horizont rückt näher. Zum Gipfel ist es noch ein Stück, doch unser lieb gewonnener Winterwanderweg biegt ab, abwärts, mäandert zurück in Richtung Bäume und Tal. Durch den tiefen Schnee nach oben führt nur die Spur der Tourengeher. Sollen wir’s versuchen, ohne Schneeschuhe? Ein Einheimischer, der uns zuvor mit Langlaufski überholt hat, nimmt uns die Entscheidung ab: „Na klaaar. Easy! In 20 Minuten seid ihr oben.“ Jetzt packt uns doch der Ehrgeiz, ohne Gipfelerlebnis wollen wir den Heimweg nicht antreten. Wir stapfen los, durch den ungespurten Schnee, mit jedem Schritt brechen wir ein.
Easy? Von wegen. Schwer atmend kämpfen wir uns in Richtung Gipfel, um schneller vorwärtszukommen, bilden wir einen Belgischen Kreisel: Einer spurt vor, bis er sich erschöpft zur Seite fallen lässt, dann geht der Nächste voran. Tour de Force. Yeah! Nassgeschwitzt erreichen wir den Gipfel des Dorfbergs – nicht in 20 Minuten, aber immerhin. Die Anstrengung hat sich gelohnt: Es weht eine angenehme Brise, von ein paar Skitourengehern werden wir für unsere Bergschuhe bestaunt, wir trinken einen Schluck Zirbenschnaps aus Andis Flachmann und betrachten zufrieden das gewaltige Panorama – sogar die Drei Zinnen in Südtirol können wir sehen.
Darf’s noch ein Kanten Käse sein? Die frische Luft macht Appetit.
Am Gipfel des Dorfbergs.
Immer wieder öffnet sich die Landschaft und weitet den Blick.
Vor dem Wochenende trieb mich eine Sorge um: Was, wenn uns langweilig wird? So ganz ohne sportlichen Ehrgeiz, Action, Après-Ski? Rückwirkend betrachtet wirkt diese Sorge unbegründet, ja sogar ein bisschen verrückt. Woher kommt die Angst vor der Langeweile? Vielleicht liegt es daran, dass Action und Ablenkung im modernen Leben ein Dauerzustand sind. Weil es immer weniger Momente der Ruhe gibt, werden sie immer wichtiger. Ein reines Entschleunigungsprogramm war das Winterwanderwochenende aber doch nicht. Als wir zurück auf dem Wanderweg sind und nach einer ordentlichen Brotzeit den Heimweg antreten, zieht Nico vier große Mülltüten aus seinem Rucksack. Will er Müll sammeln? Die Landschaft ist doch sauber? „Wir beschleunigen den Abstieg“, sagt Nico und klemmt sich eine Mülltüte unter den Hintern. Abfahrt! Nach anfänglichen Startschwierigkeiten – Tipp: Schneidersitz- Position – rauschen wir den Weg hinunter. Huuuuuuui! Kontrolle? Fehlanzeige! Hauptsache schnell! Mit gründlich massierten Steißbeinen kommen wir zurück zum Ausgangspunkt unserer Tour. Der Abstieg, für den wir sonst wahrscheinlich zwei Stunden gebraucht hätten, dauert dank unserer Sausetüten nicht mal 60 Minuten. Noch ein letztes Weißbier in der Sonne, dann schmeißen wir die Bergschuhe in den Kofferraum und machen uns auf den Heimweg – verschwinden so unkompliziert und schnell, wie wir gekommen sind. Auf der Rückfahrt denke ich darüber nach, wie gut es getan hat, mal nicht jede Minute der Freizeit mit Action vollzuplanen. Wie schön es war, ausreichend Ruhe zu haben, um die Zeit mit den Freunden und in der Natur auch wirklich genießen zu können. Das Winterwandern ist weder besonders schwierig noch besonders aufregend – und ich möchte es so schnell wie möglich wieder machen.
Bei jedem Schritt sinkt man ein paar Zentimeter in den festen Schnee ein, was beim Bergabgehen sehr angenehm ist.
Winterwandern in Tirol
Manchmal sind es die einfachen Dinge, in denen sich die größten Kraftquellen verbergen. Winterwandern zum Beispiel. Es braucht fast nichts dafür. Und doch kann es die schönsten Glücksgefühle hervorrufen. In der märchenhaften Winterwelt Tirols allemal. 5 Tipps für einen Winterwanderurlaub in Tirol.