Der Wiedereinstieg
Nach langer Verletzungspause ist es das Ziel, endlich wieder einen Berggipfel zu erklimmen.
Unsere Autorin war leidenschaftliche Wanderin. Seit einem Unfall hat sie Angst vor den Bergen. Jetzt will sie das Wandern neu lernen – und dabei auch einen Teil ihres alten Ichs wiederfinden.
Und dann bin ich endlich wieder oben. Ich sitze auf einer Bank vor der Hütte und gucke auf das Grau der Felsen, die in den letzten Sonnenstrahlen noch einmal aufleuchten, bevor sie zu dunklen Gestalten am Abendhimmel werden. Ich bin tatsächlich hier, auf 1.900 Metern, und den ganzen Weg gegangen. Mir schießen die Tränen in die Augen.
Mal wieder in die Berge gehen: Das nehmen sich viele vor für das nächste Wochenende oder den nächsten Urlaub. Ich träume seit Dezember 2016 davon. Damals lag ich nach einem Unfall mit einem dreifach zertrümmerten Sprunggelenk im Krankenhaus. Das Einzige, was da leuchtete, waren die vielen Metallstäbe, die aus meinem Bein ragten, und der Notrufknopf über meinem Bett. Seitdem habe ich nur noch von unten nach oben geguckt, die Berge waren so weit weg wie nie zuvor. Und wie es halt so ist: Wenn etwas nicht mehr geht, merkt man erst, wie sehr es einem fehlt.
Wann der Wiedereinstieg klappt ist noch nicht sicher. Aber die Sehnsucht nach dem Berg ist schon groß.
Auf meine Wanderung muss ich lange warten. Als ich nach meinem Unfall nach sechs Monaten wieder ohne Krücken gehen kann, ist an eine Tour noch lange nicht zu denken. Erst anderthalb Jahre später kann ich ohne Schmerzen spazieren gehen, maximal eine Stunde lang. Wie es sich wohl anfühlt, so ein Wiedereinstieg in die Berge, frage ich mich in den darauffolgenden Monaten immer wieder. Und beschließe, über dieses Erlebnis auch zu schreiben. Schließlich dürften sich viele Menschen fragen, ob eine Wanderung eigentlich schon wieder geht, nach Unfällen, Operationen, mit neuen Hüften oder Knien.
Für den Sommer 2019 ist der Wiedereinstieg organisiert: die Route, der Bergführer. Doch eine Woche vorher muss ich absagen: Der Zustand des Sprunggelenks hat sich über Monate verschlechtert. Weil sich Knochengewebe dort gebildet hat, wo es nicht hingehört, verschiebt sich das ganze mühsam zusammengeschraubte Gelenk. Ich habe versucht, die Schmerzen zu ignorieren, doch der Arzt beschließt, erneut zu operieren. Nach vier Monaten kann ich im November 2019 endlich die Krücken wieder im Keller verstauen. Und freue mich schon auf den Frühling, bis dahin werde ich fit sein, hoffe ich. Doch dazu wird es nicht kommen: Nur drei Monate später stürze ich beim Skifahren und breche mir die Hüfte. Und schaue erneut von unten nach oben. Und immer sind da die Berge, sie gehen mir zunehmend auf die Nerven, denn sie hängen mir ständig vor der Nase wie einem Esel die Karotte: Im Krankenhaus habe ich vom Bett einen direkten Blick auf die Zugspitze, in der Reha gucke ich vom Ergometer aus auf die Notkarspitze.
Schritt für Schritt
Für den zweiten Anlauf in Sachen Wanderung treffen wir uns Anfang September im Jahr nach meinem zweiten Unfall an der Talstation der Bergbahn in Ehrwald. Wir, das sind Pete, der Fotograf, Regina, die Bergführerin, und ich. Die vergangenen Tage hat es nur geregnet, jetzt strahlt die Sonne. Ich habe die perfekte Begleiterin gewählt: Regina Poberschnigg ist nicht nur eine erfahrene Bergführerin, sondern auch Bergretterin. Sollte mir etwas passieren, hat sie auf jeden Fall die richtigen Kontakte in ihrem Handy gespeichert. Denn das Problem ist inzwischen nicht nur: Werde ich diese Tour auch schaffen? Sondern: Gelingt es mir, meine Ängste zu überwinden? Denn die sind neu. Und ziemlich groß.
Die Angst ist bei jedem Schritt mit dabei.
Ich habe ständig Angst, mir wieder etwas zu brechen. Seit den beiden Unfällen befürchte ich ständig, vom Rad fallen zu können, in der Dusche auszurutschen, über eine Bodenwelle zu stolpern, die ich nicht sehe. Ich träume jetzt sogar vom Fallen und wache regelmäßig mitten in der Nacht auf, weil ich im Traum gestürzt bin. Es ist die Hölle. Früher kannte ich so etwas wie Angst gar nicht, obwohl sie häufig durchaus angemessen gewesen wäre, ob in einem lombardischen Geröllfeld, an einem Steig in Tirol oder auf einem pakistanischen Gletscher am Nanga Parbat.
„Es gibt mehrere Varianten für den Aufstieg zur Coburger Hütte“, sagt Regina. Die Schönste: über den Hohen Gang. Ein leichter Klettersteig, steil, aber gut machbar. Ich höre „steil“, ich höre „Steig“, es ist mir egal. Natürlich will ich die schönste Variante gehen, die Sonne scheint mir ins Gesicht, ich bin in den Bergen. Was soll da schon passieren? Und außerdem stehe ich ja noch auf dem Parkplatz. Ich bin selbst über mich überrascht.
Beim Aufsteig zur Coburger-Hütte kommt man an steilere Passagen mit Drahtseilen nicht vorbei.
Das erste Stück führt uns in Serpentinen durch einen dichten Fichtenwald. Die feuchte Erde duftet, die Vögel zwitschern – und die Wurzeln und Felsstücke sind nach dem Regen spiegelglatt. Bevor mein krisengeplagter Kopf anfangen kann, Alarm zu schlagen, fangen meine Beine bereits an zu zittern. Und bleiben einfach stehen. Mir ist das furchtbar peinlich, was für ein Theater! Und das nicht mal eine halbe Stunde vom Parkplatz entfernt.
Regina ist ein Geschenk des Himmels. Die Endfünfzigerin war selbst oft verletzt und hat in ihrer langen Karriere als Bergretterin schon so einiges erlebt. Sie weiß also genau, wie man den Menschen die Panik nehmen kann. Sie geht auf mich zu, hält mich am Arm und sagt: „Alles ist gut, mach dir keine Sorgen.“ Dann bekomme ich eine Einführung in den Bergsport. Sie erklärt mir, wie man am stabilsten steht und die Stöcke einem beim Gehen helfen, wann und wo ich mich am besten festhalte, und wie der Atem dabei helfen kann, meinen Kopf zu beruhigen. Erst bin ich genervt, das weiß ich doch schon alles. Aber ich werde ruhiger, die rutschigen Wurzeln sind längst vergessen.
Eine Bandschlinge als Gurt gibt Sicherheit.
Der Name „Hoher Gang“ passt perfekt zu der breiten Schotterrinne vor uns. Denn: Es geht ziemlich steil nach oben. Regina erzählt, dass der Steig erst im Juli erneut eröffnet wurde, ein Stück Hang war zuvor abgerutscht, jetzt ist alles wieder gesichert. Na bravo, denke ich, und halte meine Stöcke so fest, dass die Fingergelenke ganz weiß werden. Ich muss mich konzentrieren, es darf mir einfach nichts passieren, nicht heute, nie wieder. Doch an manchen Stellen blockiert mein Körper erneut. Ich habe das Gefühl, die Kontrolle über meine Beine verloren zu haben, sie zittern wie ein Stück Stoff im Wind. Eigentlich müsste ich für Hände und Füße nur je einen kleinen Felsvorsprung suchen und mich ein Stück nach oben ziehen. Aber ich stehe vor einem lächerlichen Stück Berg und weiß nicht, wie ich da am besten hochkomme. Wie einer Blinden erklärt mir Regina, was ich als nächstes machen muss. Es dauert ein bisschen, bis mein Körper auch gehorcht. Dann ziehe ich mich hoch, Stufe für Stufe.
Sichere Verbindung
Am Aussichtspunkt Coburger Rast wird durchgeschnauft. Von diesem Vorsprung aus hat man das Gefühl, auf einem Gipfel zu stehen. Viel Zeit zum Gucken bleibt nicht, jetzt geht es in den Klettersteig. „Leicht zu machen“, sagt Regina und bindet mir eine Bandschlinge als Gurt um die Brust. Ich fühle mich wie ein Vollidiot. Ich bin die Einzige, die auf dieser Strecke ausgerüstet ist mit so einem Ding. Wenn ich mich mit dem Karabiner nicht in die Eisenseile einhaken kann, hält Regina das Seil in der Hand. Wie ein Hund an der Leine, denke ich, hoffentlich sieht mich niemand. Doch diese Verbindung zwischen uns gibt mir Sicherheit. Ja klar kann ich hier runterfallen und vermutlich würde ich Regina mit mir nach unten ziehen. Aber plötzlich glimmt da ein bisschen Selbstvertrauen auf. Ich habe es bis hier geschafft, es wird nichts passieren, sage ich mir immer wieder, und klammere mich an das Drahtseil. Nach einer gefühlten Ewigkeit sind wir oben, im Paradies. Auf Almwiesen blöken die Lämmer, im Türkis des Seebensees spiegelt sich das Zugspitzmassiv, sogar ein paar buddhistische Mönche in orangefarbenen Gewändern stolpern um den See. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so glücklich war.
Das Schimmern des Seebensees lässt einen für kurze Zeit alle Sorgen vergessen.
Ein Teil der Route ist geschafft, doch nach der Abkühlung geht es weiter bergauf.
Ich kühle meine Füße im Wasser, mir tut alles weh: Sprunggelenk, Hüfte, unterer Rücken. Mein Blick fällt auf die Coburger Hütte, bis dahin muss ich es noch schaffen. Aber schaffe ich das auch noch? Eigentlich lächerlich alles, schließlich habe ich fast die Hälfte meiner Kindheit in den Bergen Tirols verbracht, für meinen Vater gab es nichts Schöneres und wir Kinder waren immer dabei. Auch später war ich selbst viel in den Bergen unterwegs. Jetzt schäme ich mich, auf dieser Wanderung immer wieder überholt zu werden. Selbst deutlich Ältere ziehen an uns vorbei. Doch ich fühle mich an manchen Tagen wie eine alte Frau, aus Anfang vierzig ist manchmal locker Mitte siebzig geworden.
Durch den Schotter wird der Weg zur Coburger Hütte anstrengender und rutschiger.
Vom Seebensee aus geht es nochmal ganz schön steil nach oben zur Coburger Hütte. Wir gehen den „alten“ Weg, weil er schöner ist und weniger Menschen dort unterwegs sind, sagt Regina. Ich hingegen sehe nur Schotter. „Rutschig“, ruft mein Kopf im Stakkato, aber zunehmend ist es mir egal, was er da brüllt. Ich gehe einfach weiter.
Und dann bin ich endlich wieder oben. Ich habe es geschafft, am liebsten möchte ich das laut über die Terrasse schreien und jedem einzelnen Bergsteiger vor seinem Bier ins Gesicht. Ich kann mich nicht satt sehen an dem Panorama, die Berge sehen hier einfach anders aus als aus dem Tal. Alles ist weiter und näher gleichzeitig, größer und kleiner. Aber vor allem: schöner. Das hatte ich total vergessen. Mein Herz hüpft.
Die Strapazen haben sich gelohnt. Angekommen auf der Coburger Hütte schlägt das Herz gleich viel höher.
Mehr als eine Wanderung
Beim Abendessen gucke ich mir die Menschen an, die an den Tischen um mich herum sitzen. „Ich bin eine von euch“, denke ich – auch wenn die meisten vermutlich frühmorgens gleich aufbrechen werden zu anspruchsvollen Touren und Klettersteigen und ich mit Sicherheit nicht. Doch jetzt spielt es keine Rolle, wie ich hier hochgekrochen bin.
Und doch bin ich froh, dass keiner von ihnen sieht, wie ich mich am nächsten Tag nach unten quäle. Diesmal wählen wir nicht den Steig, sondern den wanderfreundlichen Spazierweg. Der Abstieg hat schon mal mehr Spaß gemacht. Künftig werde ich Touren so planen, dass ich nur hochgehen muss, beschließe ich, als ich auf dem Forstweg zur Bahn humple.
Am nächsten Tag geht es mit einem guten Gefühl wieder bergab.
Am Abend sitze ich in der Badewanne und ich verstehe, dass ich an diesen beiden Tagen viel mehr geschafft habe als nur schön durch die Berge zu wandern: Mit dieser Tour habe ich mich endgültig aus dem Krankenstand herausgelaufen. Ich bin jetzt nicht mehr die Langzeitpatientin, auf die man Rücksicht nehmen muss, weil sie so vieles noch nicht kann, weil nichts mehr so ist wie vor den Unfällen. Ich habe etwas geschafft, von dem ich nicht gedacht hätte, dass es wieder geht. Da hätte mir keiner gut zureden können, ich musste mir das selbst beweisen.
In den folgenden Wochen wird mir noch eine Veränderung bewusst. Für andere mag es lächerlich wirken, mich erleichtert es ungemein. Und ich glaube fest daran, dass nur die Berge mir das schenken konnten: Ich träume nicht mehr vom Fallen.
Die Angst vor den Bergen ist überwunden.