"Sie fordert den Besten heraus"
Paul Ganzenhuber, ehemaliger Vorsitzender des FIS-Komitees, im Interview
Text: Eva Schwienbacher, Aufmacherbild: GEPA / Florian Ertl
Die Vierschanzentournee gilt für Athleten und Wintersportfans als Highlight der Saison. Einer, der seit mehr als 40 Jahren in diversen Funktionen die Entwicklung des Skisprungs mitprägt, ist Paul Ganzenhuber. Der ehemalige Trainer spricht über den Stellenwert der Tournee, den Druck für Trainer und Sportler und die Bedeutung von Erfolg.
„Es war immer mein großes Ziel, die Tournee zu gewinnen. Als es soweit war, fragte ich mich: Wo bleibt der Hype?“ Diese Worte stammen von keinem Geringeren als Paul Ganzenhuber. Der gebürtige Salzburger und Wahltiroler, der eigentlich aus dem alpinen Bereich stammt, war jahrelang treibender Motor für den Skisprung in Österreich: als Trainer, Erzieher und schließlich Direktor am Schigymnasium Stams (von 1973 bis 2005), als Cheftrainer (von 1984 bis 1988) und sportlicher Leiter der Skispringer im Österreichischen Skiverband ÖSV (von 1988 bis 1999) und ab 1988 als Vorsitzender im Internationalen Skiverband FIS für Kalenderplanung.
Ganzenhuber prägte den Werdegang von Größen wie Andi Felder, Erns Vettori, Franz Neuländtner oder Heinz Kuttin. Und auch nach über vierzig Jahren im Skisprungsport ist der mittlerweile 77-Jährige nicht müde, sich fürs Skispringen zu engagieren.
„Nicht länger als ein Fußballspiel“
Als Vorsitzender des FIS-Komitees brachte Paul Ganzenhuber zu seiner aktiven Zeit viele Neuerungen in den Sport ein, beispielsweise die Reduktion der Teilnehmerzahl von 140 auf zunächst 90, 70 und schließlich 50 Teilnehmer. „Die Idee war, dass ein Sprunglauf-Wettbewerb nicht länger dauern durfte als ein Fußballspiel“, erzählt Ganzenhuber. Er wollte den Sprunglauf medienwirksamer und interessanter für die Zuschauer machen. Das gelang ihm.
Für die Vierschanzentournee überlegte er sich einen ganz speziellen Qualifikationsmodus mit K.-o.-System, das nach wie vor das Wettkampfgeschehen prägt. Der Ablauf: Der 50. der Qualifikation trägt auch die Nummer 50 und springt – und das ist das Besondere an der Vierschanzentournee – gegen den ersten. Der zweite der Qualifikation springt gegen den 49. und so weiter. Auf diese Weise erhält man 25 Paare und damit auch 25 Gewinner. „Der Schlechteste springt gegen den Besten, steht medial im Fokus und kann sein Land präsentieren. Das ist natürlich ein Anreiz“, erläutert Ganzenhuber die Idee hinter dem Modus.
Paul Ganzenhuber war 13 Jahre lang Wettkampfleiter des Bergiselspringens. © GEPA
Auch weitere Veränderungen wie die Einführung einer Anlaufspur, der Umstieg von der manuellen Weitenmessung auf die Videoweitenmessung oder die Standardisierung der Schanzen gehen auf seine Zeit zurück. „Die Professionalisierung des Skispringens erleichterte die Plan- und Durchführbarkeit des Wettbewerbs und ließ das Interesse ansteigen“, so der 77-Jährige.
Heute ist Skispringen aus dem Wintersportkalender nicht mehr wegzudenken. Und die Vierschanzentournee gilt für Athleten wie Sportfans als sportlicher Höhepunkt um den Jahreswechsel.
Die Vierschanzentournee zählt zu den wichtigsten und bekanntesten Tourneen im Sport. Wie bekam die Vierschanzentournee den Stellenwert, den sie heute hat? Paul Ganzenhuber: Man muss als Athlet viermal sehr gut springen, damit man sich im Vorfeld positionieren kann. Wenn man einmal ausfällt, ist die Tournee vorbei. Die Tournee fordert den Besten heraus. An den vier Tagen können sich die Wetterbedingungen ständig verändern. Beim Auftaktspringen in Oberstdorf regnet es zum Beispiel, beim Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen wird es warm, beim Bergiselspringen in Innsbruck kommt der Föhn und beim Dreikönigsspringen in Bischofshofen wird es wieder kalt. Das heißt, es gibt immer neue Anforderungen. Es ist enorm schwer, seine Form auf jeder Schanze zur Geltung zu bringen. Deshalb ist die Tournee sportlich so hochstehend.
Vier Orte, vier Anlagen, vier Wettkämpfe. Was muss man als Athlet mitbringen, um vorne mitmischen zu können? Er muss eine enorme Konstanz mitbringen, eine starke Psyche, technisches Know-how und auch körperlich so in Form sein, dass er die zehn Tage durchsteht. Die Vierschanzentournee ist ein Riesenstress: die Reise von einem Ort zum anderen, die große Aufmerksamkeit, der mediale Druck.
Wie entstand die Idee, eine Tournee im Skisprung zu veranstalten? In den 1950er Jahren schlossen sich die damals führenden Skisprungvereine in Mitteleuropa – die Deutschen, die Innsbrucker, die Bischofshofener –, zusammen und entwickelten die Idee, in der Weihnachtszeit, wenn im alpinen Bereich nichts los war, ein größeres Event zu veranstalten. Zu dieser Zeit war Skispringen medial nicht so präsent wie Ski Alpin. In der Weihnachtszeit war es erstens leichter, Leute für die Organisation und die Arbeiten an der Schanze zu finden, zweitens waren die Leute zu Hause und wünschten sich eine Abwechslung. Es wurde zunächst eine Zweier-, dann eine Dreiertournee festgelegt. Und diese wuchs von Jahr zu Jahr. Mittlerweile zählt die Tournee zu den wichtigsten Geschehen im Sport. Die Zuschauerzahl zu Hause vor dem Fernsehen liegt bei der des Hahnenkammrennens.
Blick zurück: Seit der Gründung der Vierschanzentournee wird auf der Bergiselschanze in Innsbruck die Tournee mit ausgetragen.
Für die Olympischen Winterspiele 1964 und 1976 in Innsbruck wurde die Schanze um- und ausgebaut. © Bergisel BetriebsgesellschaftmbH
Sie waren 13 Jahre lang Wettkampfleiter des Bergiselspringens. Wie kann man sich Ihre Aufgaben vorstellen? Ich war für die Führung des Wettkampfes zuständig. Gleichzeitig war ich ja im FIS-Komitee, das heißt, ich durfte mir keine Fehler erlauben. Denn als FIS-Mitglied war es ja meine Aufgabe, Fehler aufzuzeigen und zu kritisieren. Und plötzlich stand ich selbst unter Beobachtung. Es war eine sehr wertvolle Zeit für mich, da ich sehr viel über mich lernen konnte: Wie gehe ich mit Stresssituationen um? Kann ich ruhig bleiben, klare Entscheidungen treffen und schaffe es, nicht auszuflippen? Es ist mir, glaube ich, gut gelungen, die Situation zu meistern.
Welche brenzligen Situationen können auftreten? Können Sie Beispiele nennen? Es kann plötzlich die Spur brechen, starker Wind aufkommen oder jemand kann stürzen. Ist Letzteres der Fall, taucht natürlich die Frage auf, ob man mitschuldig ist. Es kann auch passieren, dass jemand zu weit springt, weil man auf der Schanze zu viel Anlauf gegeben hat. Oder umgekehrt, wenn man sich nicht traute, den Anlauf zu verlängern und die Athleten nicht weit springen. Dann beginnt plötzlich das Stadion mit 20.000 Leuten zu buhen. Man trägt ja auch eine Verantwortung den Medien gegenüber. Es ist eine Gradwanderung, die Sicherheit der Athleten zu gewährleisten, eine gute Performance zu ermöglichen und das Publikum zufriedenzustellen. Aber die Sicherheit steht an erster Stelle.
Was zeichnet die Schanze in Innsbruck aus? Vor dem Umbau der vier Schanzen der Tournee war jede Schanze sehr, sehr speziell. Das änderte sich durch den genormten Schanzenbau. Inzwischen sind sich die Schanzen ähnlich. Was sie unterscheidet, sind das Schanzenprofil und der Anlauf. In Bischofshofen handelt es sich etwa um einen Naturanlauf. Garmisch hat eine sehr moderne Schanze, die etwas flacher ist, auf der man aber sehr viel Geschwindigkeit mitnehmen muss, um weit zu springen. Innsbruck ist eine Schanze, die aufgrund der Tatsache, dass sie freisteht, eine Herausforderung für den Springer ist. Alle weisen Unterschiede auf, die jeder Springer für sich verarbeiten muss. Und nicht jeder springt auf jeder Schanze gleich.
Im Winter 2020/2021 wurde der Pole Kamil Stoch Gesamtsieger der Tournee. © EXPA
Sie waren auch ÖSV-Cheftrainer. Vor so einem wichtigen Wettkampf, noch dazu im eigenen Land, steigen der Druck und die Erwartungen. Wie schafft man es dennoch, dem Athleten den Rücken zu stärken? Das hat damit zu tun, wie man im Vorbereitungsprozess mit dem Athleten umgeht, welches Vertrauensverhältnis es gibt. Ob die Athleten dem Trainer vertrauen oder ihm nur gehorchen. Eines meiner wesentlichen Ziele war immer, mit den Athleten vertrauensvoll umzugehen, ihnen zu zeigen, dass sie sich auf mich verlassen können, so wie auch ich mich auf sie einlasse. Im Training selbst wurden keine Spielereien betrieben, sondern Fakten festgelegt. In Gesprächen war es mir wichtig, ihnen Selbstvertrauen mitzuteilen und selbst auch selbstbewusst zu wirken. Das ist eine sehr diffizile Aufgabe, die sehr viel mit Psychologie zu tun hat. Und es gibt da mehrere Möglichkeiten. Man kann sich zum Beispiel eines Psychologen bedienen, wenn man das Geld hat. Zu meiner Zeit war das noch nicht möglich und es war Aufgabe des Trainers.
Das heißt, Sie haben diese Rolle übernommen? Ja, und wir haben immerhin zweimal hintereinander die Tournee gewonnen in meiner kurzen Trainerlaufzeit.
Was ist das für ein Gefühl, wenn man als Trainer die Tournee gewinnt? Für mich war es eines der ganz großen Ziele, einmal die Tournee zu gewinnen. Als ich dann zum ersten Mal die Tournee gewann – das war 1986, da machten wir sogar einen Doppelsieg mit Ernst Vettori und Franz Neuländtner – war ich zuerst riesig erfreut. Dann fragte ich mich aber: Ist das alles? Wo ist der ganze Hype? Die Euphorie? Nach dem Sieg klang der Hype sehr schnell ab und machte der Ernüchterung Platz.
Blick auf die Bergiselschanze, die zu den Wahrzeichen der Tiroler Landeshauptstadt zählt. © TVB Innsbruck Mario Webhofer
Das Programm der Vierschanzentournee
Auftaktspringen, Oberstdorf:
28. & 29. Dezember
Neujahrsspringen, Garmisch-Partenkirchen: 31. Dezember & 1. Jänner
Bergiselspringen, Innsbruck:
3. & 4. Jänner
Dreikönigsspringen, Bischofshofen: 5. & 6. Jänner
Hängt das auch damit zusammen, dass es für die Athleten unmittelbar danach weitergeht? Ja, genau. Man muss den Athleten wieder runterholen und ihm klarmachen: Nächste Woche springen wir wieder woanders. Von dem Ruhm kannst du später leben, aber jetzt noch nicht. Und für den Trainer gilt dasselbe. Nach der Tournee fährt man zum nächsten Weltcuport. Wenn es für den Athleten dort danebengeht, werden die Zeitungen nicht davon berichten, dass er immerhin die Tournee gewonnen hat, sondern dass es eine Katastrophe war.
Können Sie die Siege heute in ihrer "Pension" genießen? Genießen? Ich freue mich darüber. Es ist sehr schön. Im Laufe der ganzen Jahre als Trainer gab es viel wichtigere Dinge, die man erreichte: das Ausbilden von guter Kameradschaft, das Verständnis dafür zu wecken, dass Erfolg nicht alles ist, sondern dass man auch stark sein muss, wenn man nicht erfolgreich ist. Diese Dinge sind mir gut gelungen. Darauf bin ich noch mehr stolz als auf die vielen Erfolge.
Dabei gilt im Sport, dass nur der Erfolg zählt. Der Erfolg ist wichtig. Man arbeitet nur, um Erster zu werden. Der vierte Platz zählt nichts. Aber irgendwann muss man für sich selbst realisieren, dass der Erfolg etwas sehr Kurzzeitiges ist. Der Erfolg ist die Spitze dessen, was momentan Arbeit bringt. Dann beginnt es wieder von Neuem. Aber das, was während der Arbeit passiert, wie man den Erfolg aufbaut, welche Instrumente man in der Erarbeitung verwendet, sei es in der körperlichen, der technischen oder der psychischen, das ist viel wichtiger und viel bleibender. Der schönste Erfolg ist, wenn man als Sieger sagen kann: Aber ich habe noch viel, viel mehr erreicht. Ich half den Leuten, eine Grundlage zu entwickeln, auf der sie auch nach dem Sport aufbauen konnten.
Vielen Dank für das Gespräch.
© TVB Innsbruck Carl Johannes Rokitansky
Geschichte der Tournee:
Nach dem 2. Weltkrieg war es den deutschen Skispringern von der FIS noch verboten, im Ausland zu starten. Trotzdem luden die Innsbrucker Springer ihre Kameraden vom Ski-Club Partenkirchen (SCP) zum Skispringen auf der Innsbrucker Seegrube – die Bergiselschanze lag noch in Trümmern – ein. Nach der Wiederaufnahme des Deutschen Skiverbands (DSV) in die FIS veranstaltete der SCP am 1. Januar 1949 sein traditionelles Neujahrsskispringen. Beim Nachtskispringen am 17. Mai 1952 auf der Seegrube wurde der Organisationsplan für die „Deutsch-Österreichische Springertournee“ vorgestellt. Die drei Stationen Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen waren von Anfang an als Tournee-Teilnehmer klar. Man beauftragte den SCP wegen der Parität der Skiverbände Deutschland und Österreich einen zweiten deutschen Partner zu suchen. Infrage kamen Berchtesgaden, Füssen und Oberammergau. Weil aber die Zuschauer-Einzugsgebiete jenen der Gründer-Clubs gleichkamen, verzichtete man auf eine Zusammenarbeit mit den genannten Orten. So entstand die Kooperation mit dem Ski-Club Oberstdorf. Quelle: www.vierschanzentournee.com