Teil 1: Am nackten Fels
Die Idee: Als einigermaßen fitter Mensch aber ohne großartige Erfahrung im Alpinsport begibt sich unser Autor in die Hände von Profis, die ihn auf Unternehmungen mitnehmen, zu denen er allein niemals imstande wäre. Die erste: eine geführte Mehrseillängen-Kletterei im Wilden Kaiser. Die Profis: David und Georg von den Kitzbüheler Bergführern und unser bergverrückter Fotograf Pete.
...und dann wäre da noch ich, die Null – denn so fühle ich mich, als wir um sechs Uhr morgens auf dem Wanderparkplatz zum ersten Mal unser Ziel in Augenschein nehmen: Mächtige Zacken aus blankem Kalkstein, die beinahe senkrecht aus dem dunkelgrünen Nadelwald gen Himmel wachsen. Wunderschön. Und gleichzeitig furchterregend. Vor allem aber: unbezwingbar. Da soll ich rauf?
Mächtig erhebt sich der Predigtstuhl vor uns.
Erste Zweifel, ob ich meine Lust auf Abenteuer nicht ganz grundsätzlich überschätzt habe, kommen mir noch, bevor ich überhaupt Fels berühre. Während des Zustiegs tauschen Pete, David und Georg im Plauderton Anekdoten über ihre Helden aus.
Über Otto Oppel etwa, der 1906 allein eine Route auf den Predigtstuhl im Wilden Kaiser fand, was ihm nur dadurch gelang, dass er kurz unterhalb des Gipfels über ein ausgesetztes Felsband kroch - unter ihm der gähnende Abgrund, 400 Meter freier Fall. Ihm zu Ehren, erzählt David, wurde der Abschnitt „Oppelband“ getauft. Eigentlich liebe ich diese Art von Heldengeschichten ja. In diesem Moment aber würde ich sie lieber nicht hören. Vielleicht, weil wir uns auf dem Zustieg zu eben jener Tour befinden, die über das „Oppelband“ auf den Gipfel des Predigtstuhls führt.
Anseilen vor dem Einstieg zum Predigtstuhl.
Doch erstmal Entwarnung: Die ersten Seillängen sind mehr Kraxelei als richtiges Klettern. Mein neugefasstes Selbstvertrauen verdanke ich vor allem Georg und David. Wo andere ein halbes Dutzend Zwischensicherungen setzen würden, klettern die zwei Bergfexe meist ohne Unterbrechung bis zum nächsten Standplatz. Ihre Selbstgewissheit strahlt auf mich ab, außerdem loben mich die beiden alle paar Meter für mein vermeintliches Klettertalent, auch wenn ihre Schuhwahl verrät, dass wir uns in einer anfängerfreundlichen Route befinden.
Der ausgesetzteste Vierer der Nordalpen
Unsere Tour auf den Predigtstuhl ist auch als der „ausgesetzteste Vierer der Nordalpen“ bekannt. Soll heißen: nicht wirklich schwer zu klettern, aber in vielen Passagen von schwindelerregender Steilheit. Obwohl wir noch einige Seillängen vor uns haben, ist das Panorama schon jetzt eindrucksvoller als alles, was ich bisher erlebt habe. Aber über dem Tal liegt auch ein großer Schatten – geworfen vom Berg in meinem Rücken. Wie eine Warnung sieht er aus: Noch habt ihr mich nicht erklommen. Und das Oppelband kommt erst noch.
Die Kletterei bewegt sich größtenteils im vierten Schwierigkeitsgrad, ist aber sehr ausgesetzt.
Die Probleme beginnen schon früher. David, Georg und Pete sind bereits beim nächsten Standplatz – aber ich stecke in der Wand fest. „Wolfgang, alles klar?“, schallt es von oben runter. Was soll ich sagen? Scheiße, nein?! Um weiterzukommen, muss ich um einen kleinen Vorsprung klettern, der mir die Sicht versperrt. Mein rechter Unterschenkel zittert vor Anstrengung, langsam geht mir die Kraft aus. „Ich hab dich, lass dir Zeit“, ruft mir David zu und zieht das Seil, an dem ich hänge, etwas straffer. Das Gefühl, von oben gehalten zu werden, gibt mir Sicherheit.
400 Meter Nichts am Oppelband
„Ob man 20 Meter fällt und tot ist oder 400 Meter fällt und tot ist, macht keinen Unterschied.“ Worte, die in in Davids Welt wohl beruhigend wirken sollten, als wir gerade das Oppelband erreichen. Noch liegt es hinter einem Felsvorsprung verborgen, dann bin ich an der Reihe. Ich klettere um den Vorsprung und sehe es endlich: das Oppelband. Ein langgezogener, schräg nach oben verlaufender Vorsprung, der aus dem Fels klappt, als hätte der Berg hier einen Riss. Der Stein darüber ist glatt und leicht nach außen gewölbt, bietet keinerlei Halt. Die einzige Möglichkeit, die Passage zu passieren: bäuchlings über den Vorsprung zu kriechen. Darunter: 400 Meter nichts und dann der verdammt hart aussehende Boden.
Überwindung des berühmt-berüchtigten Oppelbands.
Ich zögere. In den letzten Stunden habe ich mich daran gewöhnt, immer dem Felsen zugewandt zu sein und mich an ihm festhalten zu können. Jetzt den Griff zu lösen und mich nach vorne fallen zu lassen, fühlt sich gar nicht gut an. Ich umarme den kalten Stein und rutsche Zentimeter für Zentimeter nach vorne, mein rechtes Bein in der Luft baumelnd, fokussiert auf die andere Seite, wo Georg auf mich wartet.
Kurz bevor ich da bin, wage ich doch noch einen Blick in den Abgrund. Die Distanz bis zum Boden ist so absurd groß, dass die Höhe – und die damit verbundene Gefahr – abstrakt, ja unwirklich wird. Hier herunterfallen? Übersteigt schlicht meine Vorstellungskraft!
Die letzten Meter Richtung Gipfel
Der darauffolgende Adrenalinschub lässt die letzten Seillängen wie im Rausch vergehen und kurze Zeit später stehe ich tatsächlich auf dem Gipfel des Predigtstuhls: ein zerklüftetes, kleines Plateau aus grauen Felsen und Geröll, auf dem ein Gipfelkreuz aus Edelstahl steht. In diesem Moment fühlt es sich an, als hätte ich den schönsten Ort der Welt gefunden.
Gipfel des Predigtstuhls
Eine Dohle kommt angeflogen und gratuliert mir zu meiner Leistung. Zum Dank teile ich die Reste meiner Brotzeit mit ihr. Auch bei Georg und David bedanke ich mich überschwänglich. Ohne die beiden Profis wäre ich niemals an diesen Ort gelangt: 2.093 Meter über dem Meer – und der Versöhnung mit meinem zehnjährigen Abenteurer-Ich schon ein großes Stück näher.