Kühle Temperaturen, perfekter Grip
Sich am eiskalten Kalk die Finger abfrieren und anschließend noch zähneklappernd das Sicherungsgerät bedienen? In der kalten Jahreszeit an den Fels zu gehen erscheint ähnlich abwegig wie Rodeln im Sommer. Aber nur auf den ersten Blick. Zwei Tiroler Weltklasse-Athleten erzählen, worauf es ankommt und warum man im Winter oft die besten Bedingungen für schwere Kletterrouten vorfindet.
Brrrrr....
Solide fünf Grad im Minus ist die Celsiusskala an diesem Morgen am Parkplatz in der Leutasch. Ein kurzer, skeptischer Blick Richtung Katharina, ein leises „brrr“ dazu, dann öffnen wir die Türen des bequem vorgewärmten Autos, schnüren die Schuhe enger und schultern die Rucksäcke. Fühlen sich etwas schwer an heute, eingepackt haben wir nämlich nicht nur Thermoskanne und Wechselsachen, sondern auch ein 80-Meter-Seil, 16 Expressschlingen und Kletterpatschen. Minus fünf Grad, und wir wollen an den Fels, zum Klettern gar? Sollte man im Winter nicht vernünftigerweise auf Skitour gehen oder Rodeln oder Eislaufen?
Wirklich beeindruckend - die Chinesische Mauer in der Leutasch.
Klettern und Winter, mit dieser Wortkombination assoziieren die meisten wohl ganz automatisch eine wohltemperierte Halle mit ihren schön farbigen Kunstharzgriffen und einer Fußbodenheizung. Sich am eiskalten Kalk die Finger abfrieren und anschließend noch zähneklappernd das Sicherungsgerät bedienen? In der kalten Jahreszeit an den Fels zu gehen erscheint ähnlich abwegig wie Rodeln im Sommer. Aber nur auf den ersten Blick. Katharina Saurwein erklärt, worauf es wirklich ankommt: „Für harte Routen brauchst du kühle Temperaturen und trockene Luft. Dann ist auf den kleinen Griffen der Grip besser, die Reibung passt, in der sommerlichen Hitze würde man da erbarmungslos abschmieren“, sagt die Weltklasse-Athletin aus Innsbruck.
Und kleine Griffe, die gibt es hier oben an der Chinesischen Mauer in der Leutasch zur Genüge. Als wir nach ein paar Metern Zustieg auf das offene Feld kommen, frischt auch noch ein zapfiger Wind auf. Wir ziehen die Kapuzen über die Köpfe und legen an Tempo zu, Hände in den Hosentaschen. Kurz kommen Zweifel auf: Was, wenn die Wolken doch hängenbleiben oder zu viel Schnee am Wandfuß liegt? Dann können wir wahrscheinlich gleich wieder umkehren, wir hätten einen netten Spaziergang gemacht, mehr nicht.
Gut eingepackt geht es Richtung Felswand.
Unter den Füßen knirrscht es bei jedem Schritt.
Felsklettern in der kalten Jahreszeit ist eine fragile Angelegenheit: Es kann wunderbar funktionieren, aber die Bedingungen müssen eben genau passen. „Kommt eine Wolke, kommt ein kalter Wind, kann aus dem geplanten Klettertag mit T-Shirt schnell eine Tortur mit eiskalten Fingern werden. Aber wenn alles zusammenspielt, kannst du dich in der Wand wie in einer anderen Jahreszeit fühlen“, sagt Katharina Saurwein. Für heute schaut es gut aus: Die großen Wände des Wettersteingebirges leuchten schon in der Sonne, auf die Wandabbrüche der Chinesischen Mauer – so heißt unser Klettergarten am Fuße des Öfelekopfes mit viel Selbstbewusstsein – treffen auch schon die ersten Strahlen. Wir stapfen weiter, im stillen, verschneiten Wald ziehen wir die erste Spur nach oben, hin zur Wand.
Das Fels-Dream-Team
Mit ihrem Ehemann, dem Niederländer und Wahl-Tiroler Jorg Verhoeven, bildet Katharina Saurwein eine der stärksten Seilschaften der Welt. Und dabei ist ihnen die Disziplin ziemlich egal: Ob Sportklettern, Bouldern oder Bigwall, als perfekte Allrounder mischen die beiden seit Jahren überall vorne mit. Jorg gelang 2014 die vierte freie Begehung der „Nose“ (Video siehe unten), der wohl berühmtesten Route der Welt – sturzfrei durch gut 1.000 Meter vertikalen Granit am El Capitan im Yosemite Valley, USA. Auch Katha ist beim Trad-Klettern, wo alle Sicherungen selbst gelegt werden müssen, mental sowie physisch in außerirdischen Schwierigkeiten unterwegs („Tainted Love“ 5.13d = 8b in Squamish, Kanada oder der ikonische Fingerriss „Ganja“ im Zillertal).
2008 gelang Jorg der Gesamtsieg im Vorstiegsweltcup, 2016 gewann Katha den Boulderbewerb des legendären Rockmaster-Festivals. Nach 15 Jahren im Weltcup-Zirkus haben Katha und Jorg beschlossen, ihren Fokus zu verschieben und sich ganz auf das Felsklettern zu konzentrieren. Das Grande Finale für die beiden war die Heim-Weltmeisterschaft 2018 in Innsbruck, vor heimischem Publikum gaben sie nochmal alles, ein würdiger Abschied.
Friction für die Profis
„Mit dem neuen Kletterzentrum Innsbruck haben wir zwar eine der modernsten Hallen der Welt im Land, Nationalteams aus der ganzen Welt kommen extra für Trainingseinheiten hierher“, weiß Katharina Saurwein. „So wichtig die Halle ist, so wichtig ist auch der Felskontakt. Das Felsklettern kann Teile des Trainings ersetzen und bringt Abwechslung und damit Motivation in den Trainingsalltag. Selten hält man so kleine und schlechte Griffe fest wie draußen am Fels, ein perfektes Training für die Fingerkraft. Auch das Ansteigen in plattigen Routen ist eine ideale Technikschule für die Fußtechnik.“
So wichtig die Halle ist, so wichtig ist auch der Felskontakt. © Kletterverband Innsbruck
Am Fels kann man ideal seine Technik ausbauen. © Red Bull Content Pool
Ähnliches erzählt auch Kilian Fischhuber, mit fünf Gesamtweltcupsiegen seines Zeichens erfolgreichster Wettkampfboulderer aller Zeiten. Seit letztem Jahr ist er als Nationaltrainer für das österreichische Team tätig. „Am Fels kann man ideal seine Technik ausbauen, schwere Routen klettern oder einfach Motivation für die langen Hallentrainings aufsaugen“, erklärt Kilian.
„Im Winter passt einfach die friction, die Reibung. Wenn die Sonne flach steht, scheint sie im direkten Winkel auf die Felsen und ermöglicht es so, auch bei Lufttemperaturen unter dem Gefrierpunkt dennoch warme Finger zu bekommen.“ Und die brauchen wir bei den Minus fünf heute allemal. Kilian bestätigt, dass sich unser Schnaufen durch den steilen Wald bis hin zur Mauer bezahlt macht: „Je weiter der Zustieg, desto mehr profitiert man von einem guten Kreislauf, der heizt bis in die Peripherie!"
Ein paar zusätzliche Aufwärm-Tricks verrät er uns am Fels aber dennoch: „Neben dem klassischen Armkreisen kann man auch Wärmepads verwenden. Oder ganz martialisch einen heißen Stein ins Chalkbag legen. Dafür braucht man einen Gaskocher oder, wenn es die Gegebenheiten zulassen, ein kleines Feuer. Und wichtig: Der Stein sollte dabei weder zu groß noch zu heiß sein“, schmunzelt er.
Ein Ort, zwei Jahreszeiten
An der Chinesischen Mauer haben wir heute Glück: Die Restwolken haben sich verzogen, die Sonne scheint von einem makellosen, tiefblauen Himmel. Und genau im richtigen Winkel auf die südseitig ausgerichteten Kalkfelsen. Aus den warmen Wollsocken (danke, Oma!) in die engen Kletterschuhe zu schlüpfen benötigt zwar einiges an Überwindung, aber Katha hat auch hier einen Trick parat: „Stecke deine Schuhe nach dem Klettern immer gleich in deine Daunenjacke, das hält sie warm!“ Etwas zögerlich geht es dann in die Vertikale, doch sobald die ersten Meter im Halbschatten der Bäume überwunden sind, ist man in einer anderen Welt angekommen: Man spürt die Sonne in ihrer ganzen Kraft, die Finger werden warm, der Grip am Fels phänomenal. Bedingungen, von denen man im Sommer oft nur träumen kann. Klettern im T-Shirt, sichern in der Daunenjacke – das ist der etwas bizarre Dresscode der Winterkletterer.
Doch bedeutet der niedrige Sonnenstand nicht nur einen guten Einstrahlwinkel, sondern auch kurze Tage. Bereits am frühen Nachmittag verschwindet unser geliebter Fixstern hinter der Bergkuppe im Westen, und innerhalb von wenigen Minuten wird man aus einem gefühlten Frühsommertag dorthin geworfen, wo man sich tatsächlich befindet: mitten im Winter, auf 1.200 Meter Seehöhe. Ein letzter Schluck ist noch in der verbeulten Thermoskanne, danach ist es Zeit, das Seil abzuziehen und im Rucksack zu verstauen. Die Chinesische Mauer fällt nun wieder in den Winterschlaf. Zumindest so lange, bis der nächste wolkenlose Tag ansteht. Wir folgen unseren Spuren im Schnee zurück zum Auto – spätestens unten auf der Wiese freuen wir uns schon auf die behagliche Wärme der Sitzheizung.
Wunderschöne Abendstimmung im Winterklettergebiet.
Kilian Fischhuber und Katharina Saurwein empfehlen die 5 besten Winterklettergebiete in Tirol:
Chinesische Mauer, Leutasch. „Im Winter scheint die Sonne von circa 10 bis 14:30 Uhr an die Wand. Wenn der Himmel ganz klar ist, kann man auch bei gut unter Null klettern. Die Aussicht über die verschneite Leutasch ist wunderschön“, sagt Kilian.
Schleierwasserfall, Wilder Kaiser. „Wenn nicht zu viel Schnee liegt, oder man eh gleich mit Skiern anrückt kann es auch im Hochwinter sehr warm an der Wand werden. Der große Überhang bildet eine Art Spiegel, in dem es sich gut sonnen lässt. Die Routen sind aber durchwegs schwer bis extrem schwer. Man sollte also neben der Motivation für den winterlichen Zustieg also auch genügend Power für die Routen mitnehmen“, weiß Kilian.
Dschungelbuch. Hier kann man in direkter Nähe zu Innsbruck (die Wand ist von der Tiroler Landeshauptstadt sogar mit dem Fahrrad zu erreichen) den ganzen Winter klettern. „Vorausgesetzt, der Himmel ist klar und es pfeift kein Wind. Wenn die Bedingungen passen sieht man hier im Dezember noch Kletterer in kurzer Hose“, sagt Katharina.
Achleiten. „Ein sehr idyllisch gelegenes Kalkgebiet in der Nähe von Kufstein mit hervorragender Aussicht. Hier findet man von kurzen Boulderrouten bis zu Ausdauerhämmern alles, was das Winterkletterherz begehrt“, meint Katharina.
Affenhimmel / Starkenbach. Wie das Dschungelbuch ist auch der sogenannte „Affenhimmel“ ganz unten im Inntal gelegen, die Felsen südseitig ausgerichtet. Hier findet man auch eine große Anzahl an Routen in den unteren und mittleren Schwierigkeitsgraden.