Hochburg in der Silvretta: Jamtalhütte
Die Jamtalhütte: Trutzburg inmitten der Silvretta.
Manche Hütten gehören zu den Bergen wie die Orte im Tal. Sie stehen dort, so lange Menschen sich erinnern können. Und fast nichts kann ihnen etwas anhaben. Ein Besuch auf der Jamtalhütte, tief in der Silvretta über Galtür.
Eigentlich würde man am Ende des zwölf Kilometer langen Jamtals, das bei Galtür tief in die Silvretta schneidet, ein Bergdorf erwarten. Mit Gaststätte, hoher Poststation, historischem Handelsposten. Doch da steht nur eine Hütte. Aber was heißt „nur“ – wie eine Trutzburg thront die Jamtalhütte auf einem Plateau. Historisches Hoch- und Skitourenziel in einem der weitläufigsten, nur am Rande von Liften erschlossenen und deshalb unter Alpinisten beliebtesten Massive der Alpen. Wer hier, umgeben von Dreitausendern, ein Zimmer mit Blick in den eisigen Sternenhimmel beziehen will, muss schon ein paar Stunden anmarschieren.
Eine Winternacht an einem abgelegenen Ort, in vollkommener Stille und mit garantiert unverbautem Blick in die Bergwelt – das kann man in Tirol auf einigen Berghütten erleben. Manche sind von einem Skigebiet aus zu erreichen, andere mit einer gemütlichen Wanderung auf einer verschneiten Straße. Und dann gibt es noch die hochalpinen Hütten, von denen die höchstgelegenen nur die Winterräume geöffnet haben. Aber einige sind eben doch bewirtet und bieten allen, die bereit sind, den Anmarsch durch ein langes Tal in Kauf zu nehmen, das immer wieder unwahrscheinliche Erlebnis von Wärme und Trockenheit, Essen und Licht, Gesellschaft und Geborgenheit in einer Welt, in der sich viele Monate kaum ein Tier verirrt.
Und was heißt schon „in Kauf nehmen“? Auf unserer Suche nach den abenteuerlichsten Unterkünften des Landes sehen wir gerade diese weit von der Zivilisation entfernten Schutzhäuser als Möglichkeit, lange Touren zu unternehmen, die am Abend nicht am Ort des morgendlichen Starts beginnen müssen. In diesem Fall starten wir spät im Skigebiet von Ischgl, erwischen eine der letzten Gondeln auf den Piz Val Gronda und ziehen in weiten Schwüngen durchs kalte Nachmittagslicht hinunter zur Heidelberger Hütte. Hier könnte man jetzt eine Nacht verbringen und die Überschreitung zur Jamtalhütte am nächsten Morgen angehen, doch wir haben noch Energie und steigen die 700 Höhenmeter hinauf und hinein in die Silvretta, bis ins Kronenjoch.
Über die Heidelberger Hütte und das Kronenjoch führt eine Aufstiegsvariante aus dem Ischgler Skigebiet zur Jamtalhütte.
Die Tage sind bereits lang, im Tal bricht der Frühling durch die Schneedecke, die vielleicht schönste Zeit in der Silvretta. Und so erreichen wir die Jamtalhütte von Westen, im letzten Licht. Es ist die Seite, die das trutzburgartige der Hütte gleich auf den ersten Blick vermittelt. Wo ganz am Anfang, in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts das erste Holzhaus errichtet wurde, Ende 70er Jahre des 20. Jahrhunderts wieder ein neuer Hüttenteil gebaut und das ständige Ausbildungszentrum des Deutschen Alpenvereins in Betrieb genommen wurde, krachten Ende des letzten Februars des vergangenen Jahrtausends zwei Staublawinen auf die Ost- und Südostseite der Hütte und beschädigten sie stark.
Die Jamtalhütte kann mindestens genauso viel Geschichten erzählen wie ihr Wirt Gottlieb Lorenz.
Weil Gottlieb Lorenz mit zwei früher Gästen in diesem Katastrophenwinter 1999 nicht im Gastraum, sondern in der Küche an einer gemütlichen Eckbank saß, kam auf der Jamtalhütte niemand zu Schaden. Einen Tag später gingen verheerende Schneemassen auf Galtür nieder, den Talort der Jamtalhütte, unter denen 31 Menschen starben, darunter Gottliebs Frau und Mutter, ebenfalls Hüttenwirtinnen der Jamtalhütte. Dass schon im Sommer nach der Lawinenkatastrophe die Hütte wieder instandgesetzt wurde, dass Gottlieb Lorenz bis heute hier tätig ist, das zeugt auch davon, was dieser Ort für die Menschen im Paznaun und ihre Gäste für eine Bedeutung hat.
Die Trutzburg also. „Das alte Haus war auf dieser Seite drei Stock hoch“, erklärt Gottlieb. „Nach der Lawine wurde das Dach heruntergezogen, hinter den Schindeln sind Wände aus Vollbeton, die Fenster haben Stahlrahmen, zehn Zentimeter dick.“ Mehr als hundert Jahre hatte nicht ein Ausläufer einer Lawine die Hütte erreicht, und sollte es in den nächsten hundert Jahren wider alles Erwarten doch noch einmal passieren, wird sie über die neue Jamtalhütte hinwegfahren, wie eine Welle über einen Bunker.
Die Familie Lorenz führt die Jamtalhütte bereits in vierter Generation. Gottlieb nun auch schon seit über 20 Jahren.
Wenn Gottlieb Lorenz von den Ereignissen erzählt, die jetzt auch bald schon wieder ein Vierteljahrhundert her sind, ist er ganz ruhig. Er habe das Glück gehabt, wieder eine Frau zu finden. Dann bekräftigt er, dass er den Beruf immer noch sehr gerne mache. „Wenn man da zuhause ist, wenn man da aufwächst, ist man auch verwurzelt damit“, sagt er. „Ich betreibe das Haus, als wenn es mein Haus wäre.“ Und weil er bis heute Freude daran hat, ist aus der Jamtalhütte schnell wieder die Anlaufstelle in der Silvretta geworden, die sie immer war, schon in den drei Generationen Lorenz, die vor ihm die Hütte bewirtet haben – seit 1882. Es ist ein Ort mit einem gerade im Winter beinahe internationalem Flair, den die Menschen aus den unterschiedlichsten Richtungen ansteuern. Hier war schon Hemingway unterwegs. Und Albert Einstein. Die Gebetsfahnen, die vor der Hütte wehen, schickt ein Sherpa aus Nepal, dessen Familie Lorenz seit Jahren unterstützt.
Das Tourenangebot von der Jamtalhütte aus ist überaus vielseitig. Es gibt Tagestouren unterschiedlicher Schwierigkeiten, viele so, dass man sie ganz locker bis zum Nachmittag schafft. Und natürlich auch die Signature-Gipfel, Dreiländerspitze oder Piz Buin, die aber meistens im Rahmen von Silvretta-Durchquerungen gemacht werden, die gerne mal eine Woche dauern und die Gottlieb in ein paar Stichworten so zusammenfasst: „Heidelberger Hütte, Piz Tasna, nochmal übernachten, Kronenjoch zu uns. Augstenbergl und noch eine Nacht hier. Dreiländerspitze, Wiesbadenener Hütte. Dann noch den Buin. Und dann ist eh schon wieder Samstag.“ Wir wählen am nächsten Tag eine Tour auf die Chalausköpfe, deren nordwestseitige Abfahrt uns auch im Frühling noch feinen, schnellen Pulverschnee beschwert.
Dreiländerspitze, Piz Buin, Piz Tasna oder das Augstenbergl? Die Auswahl an Tourenzielen rund um die Hütte ist riesig.
Hemingway und Einstein waren schon von der Landschaft rund um die Jamtalhütte fasziniert.
Was ist das Besondere dieser Hütte für den Wirt? „Es ist eine große Hütte. Komfortabel. Manchen gefällt das auch nicht so“, erzählt er später. „Aber das ist halt so, weil auch im Winter viel los ist, weil die Region so viel hergibt als Tourenregion. Oft sind hier Menschen aus zehn, zwölf Nationen.“ Im Winter ist die Jamtalhütte eine reine Skitourenhütte „Eine Grundkenntnis sollte man haben, sonst brauchst du einen Bergführer“, sagt Lorenz. Andererseits würden die meisten Touren von geführten Gruppen angespurt, so dass auch Skitouristen ohne große Ortskenntnis sicher unterwegs sein könnten. „Ich frag alle am Vorabend, was sie am nächsten Tag machen, wo sie hingehen. Oft kommen sie auch und fragen. Dann musst du ihnen halt eine gute Auskunft geben. “
Die Jamtalhütte zählt zu den größten Alpenvereinshütten in Tirol, auch im Winter ist sie gut besucht.
Mittlerweile gibt es auf der Hütte mehr Betten als Lager.
Und auch, wenn er als Mensch durchaus gefordert ist, freut es Gottlieb Lorenz – wie die meisten Hüttenwirte –, dass er hier oben kein Hotel betreiben muss. „Die Leute sind teils schon anspruchsvoller als früher“, sagt er. Und so ist es kein Zufall, dass sich nach dem letzten Umbau zum Beispiel das Verhältnis von Lagern zu Betten umgekehrt hat. Natürlich zu Gunsten der Betten. „Aber eigentlich muss du den Gast nur freundlich aufnehmen. Er muss sehen: Das Haus ist sauber. Wenn du dann ein ordentliches Essen machst und das Bier anständig einschenkst, dann passt es eigentlich.“
Er erzählt seine Geschichte im Führerhaus seines polternden, alten Raupenfahrzeugs, mit dem er uns das lange Jamtal mit hinaus nimmt nach Galtür. Plötzlich hält er inne und zeigt auf einen dunklen Fleck im Schnee. „Schau, da unten hockt a Gams. Sigst as?“ Er staunt, mit 58 Jahren, nach einem ganzen Leben in den Bergen, als würde es zum ersten Mal Frühling.
„Schau dir’s an. A Wahnsinn.“
Zimmer mit Aussicht auf Schnee
Geschichten über Leidenschaft, Abgeschiedenheit und die Kräfte der Natur im winterlichen Hochgebirge: In einer Porträt-Serie haben wir die außergewöhnlichsten Winterhütten in den Tiroler Bergen besucht.