"Don't scare the judges"
Text: Eva Schwienbacher, Aufmacherbild: Freeride World Tour/ Dom Daher
Der ehemalige Snowboardprofi und mehrfache Weltmeister Berti Denervaud ist Head Judge, also Chef-Juror, der Freeride World Tour (FWT). Im Interview erklärt er, wie das Judging-System (die Bewertungsmethode) funktioniert, wie es entstanden ist und womit Fahrer punkten können - oder auch nicht.
Wann und wie wurdest du zum Judge der FWT?
Berti Denervaud: Ich begann 1998 beim Freeride-Wettbewerb Xtreme Verbier mit dem Bewerten und war seitdem an der Entwicklung des Judging-Systems beteiligt. Als das Event 2008 eine Tour wurde, reiste ich zu mehr Veranstaltungen und arbeitete weiter am Judging. Seit 2010 arbeite ich Vollzeit für die Tour und bin Head Judge.
Wer ist für die Zusammenstellung der Jury zuständig? Und wie werden die einzelnen Juroren ausgewählt?
Ich lade die Judges ein. Das Team besteht aus sehr erfahrenen Vertretern des Ski- sowie des Snowboardbereichs, die sowohl Amerika als auch Europa und Asien repräsentieren.
Berti Denervaud (*1970) aus Freiburg in der Schweiz ist Head Judge der Freeride World Tour und ehemaliger, sehr erfolgreicher Profi-Snowboarder. Er wurde acht Mal Weltmeister (zwischen 1992 und 1998), einmal davon in der Halfpipe (1995), gewann bei den X-Games Bronze und Silber (zwischen 1998 und 2002) und nahm an den Olympischen Spielen in Nagano 1998 teil. © Freeride World Tour/ Dom Daher
Wie lernt man das Bewerten als Judge?
Es gibt ein Handbuch und Videos. Neue Judges bekommen von uns einen Zugang zu Online-Materialien, die sie selbstständig studieren können. Wir zertifizieren sie dann. Zunächst sind sie Rookie Judges, das heißt, dass sie Einsteiger-Events beurteilen dürfen, bei denen ihr Head Judge ihr Level beurteilt. Nach drei Events auf Rookie-Niveau erhalten sie eine Bestätigung. Nach drei Veranstaltungen mit einer Beurteilung durch einen Head Judge werden sie zum Senior Judge und können als Head Judge für Events auf niedrigerem Level arbeiten.
Was ist dein Job als Head Judge? Und warum benötigt ein Freeride Contest eine mehrköpfige Jury?
Jeder Judge bewertet jeden Lauf, bis auf den Head Judge. Dieser kontrolliert und leitet die anderen. Da es sich nicht um eine exakte Wissenschaft handelt, hilft es, wenn mehrere Leute ihre Meinung äußern. So erhält man faire Ergebnisse für alle Fahrer und verhindert, dass nur eine Person die Läufe des kompletten Tages interpretiert und alleine die volle Verantwortung für das Ergebnis übernimmt.
Was macht die Bewertung eines Freeride Contests so schwierig und warum ist das Bewertungssystem so komplex?
Das Judging-System ermöglicht es, dass unterschiedliche Styles gezeigt werden, und verhindert, dass jeder Fahrer den gleichen Run ausführt. Manchmal ist es der schnellste Run, der den besten Eindruck macht, manchmal der originellste, manchmal der Run mit Freestyle-Tricks oder aber der Run mit den höchsten Sprüngen. Es ist unmöglich, im Voraus zu sagen, welche Line gewinnen wird. Es ist sehr schwierig, zwei Runs zu unterscheiden, die nicht am selben Ort am Berg geschehen und die sich in puncto Style unterscheiden. Deshalb braucht es erfahrene Fahrer als Judges.
Die Judges der FWT benutzen Ferngläser, um die Athleten in den steilen, großen Faces im Auge zu behalten. © Freeride Worldtour / Tim Lloyd
Die Bewertungsmethode sieht fünf Kriterien vor. Kannst du die einzelnen kurz erklären?
Die Fahrer werden nach den fünf Kriterien Linienwahl, Air & Style, Flüssigkeit, Kontrolle und Technik bewertet. Bei der Linienwahl geht es darum, ob die Line schwierig oder einfallsreich ist und ob der Fahrer das Beste aus seiner Linienwahl gemacht hat. Bei der Flüssigkeit zählt, ob der Fahrer schnell fährt im Verhältnis zur Steilheit, Ausgesetztheit und Schneelage und ob er gestoppt oder gezögert hat. Bei der Kontrolle geht es darum, ob der Fahrer während des kompletten Runs die Kontrolle behielt. Dann zählt noch die Technik des Fahrers, beispielsweise ob ein Fahrer in einem Abschnitt nur gerutscht ist, wo andere Turns zeigten.
Sind alle Kriterien gleich gewichtet? Oder gibt es eines, das besonders viele Punkte bringt?
Ja, alle sind gleich wichtig. Am Ende zählt der Gesamteindruck. Die Gesamtpunktzahl steigt oder sinkt, je nachdem, was wir in den einzelnen Bereichen sehen. Was man jedoch sagen kann, ist, dass man bei "Kontrolle" durch einen Crash viele Punkte verliert, während man mit einem großen Sprung, Tricks und einer sauberen Landung punktet.
Wie gehen die Athleten deiner Erfahrung nach mit dem Thema Risiko um? Gibt es Unterschiede zwischen erfahrenen Athleten und jungen?
Wir vergeben keine hohe Punkteanzahl für Versuche und Stürze. Die Fahrer wissen, dass sie gut landen müssen, um zu punkten. Sie wissen, dass normalerweise kleine, sauber gelandete Sprünge besser sind als große mit verpatzter Landung. Auf diese Weise trägt das Bewertungssystem dazu bei, die Fahrer nicht dazu zu bringen, unnötige Risiken einzugehen. Wir sagen auch immer: "Erschrecke die Jury nicht!" Das bedeutet, dass ein Fahrer, der die Kontrolle verliert - besonders an gefährlichen Stellen am Berg -, selbst wenn er nicht stürzt Punkte verlieren würde.
Gilt für alle Kategorien - Ski/Snowboard, Männer/Frauen - dasselbe Bewertungs-System?
Ja, es ist immer das gleiche Bewertungssystem. Wir vergeben Punkte von 0 bis 100 für alle Kategorien. Da Frauen in der Regel etwas langsamer sind und kleinere Sprünge machen, wird beispielsweise der gleiche Sprung für eine Snowboarderin höher bewertet als für einen Skifahrer. So können die Judges die volle Punktezahl in allen Disziplinen nutzen.
Und wer gewinnt am Ende?
Der "Wow-Lauf" des Tages gewinnt, egal ob der Wow-Effekt vom Speed, den Tricks, der Originalität oder den großen Sprüngen hervorgerufen wird. Man muss aber immer im Kopf behalten, dass wir den kompletten Lauf von oben nach unten bewerten. Das heißt, dass die gesamte Abfahrt herausragend sein muss und nicht nur eine Aktion.
© Freeride World Tour/ Dom Daher
FWT Fieberbrunn 9. – 15. März
Zum 11. Mal ist die Freeride World Tour zu Gast in Fieberbrunn. Die Freerider befahren den Nordhang des 2.119 Meter hohen Wildseeloders und bewältigen einen Höhenunterschied von 620 Metern. Die Fans können im Zuschauerareal am gegenüberliegenden Lärchfilzkogel die Runs der Freerider verfolgen.
Wie oft passiert es, dass es Meinungsverschiedenheiten zwischen den Judges gibt? Und wie wird damit umgegangen?
Das kommt vor. Aber es ist nicht immer eine Meinungsverschiedenheit. Manchmal sahen zwei Judges die Landung eines Sprungs nicht auf die gleiche Weise, weil beispielsweise viel Schnee in der Luft lag. Ist das der Fall, nehmen wir uns etwas Zeit, um über den Punkt zu diskutieren, über den wir uns nicht einig sind. Dann erklärt jeder Judge seine Meinung zu dieser spezifischen Aktion, um dem gesamten Team zu helfen, die beste Entscheidung zu treffen. Im Falle einer echten Meinungsverschiedenheit könnte der Head Judge auf die eine oder andere Weise eingreifen.
Wie gehst du persönlich mit Kritik an der Bewertung um?
In einer Sportart mit Jury-Bewertung wird es immer Kritik geben. Wenn du als Fahrer nicht mit der Bewertung umgehen kannst bzw. als Judge nicht mit Kritik an der Bewertung, dann solltest du etwas anderes machen. Aber solange es sich um konstruktive, höfliche Kritik handelt, bin ich immer dazu bereit, Bewertungen zu erklären, bzw. offen für Inputs, wie wir es anders machen sollten.
Lass uns über den vierten Stopp der FWT sprechen. Was zeichnet den Contest am Wildseeloder in Fieberbrunn aus?
Es handelt sich um ein sehr interessantes Face (Anm.: Berghang). Da es so abwechslungsreich ist, können sich hier sowohl Big-Mountain-Spezialisten als auch Freestyle-Experten ausdrücken. Jeder Style könnte in Fieberbrunn gewinnen.
Wie die Athleten inspizieren die Judges vor dem Event das Face, erzählt Berti Denervaud im Interview. © Freeride World Tour / Mia Knoll
Bereitest du dich als Judge auf die einzelnen Tourstopps vor? Wenn ja, wie schaut die Vorbereitung aus?
Genauso wie die Fahrer überprüfen wir das Face und sprechen miteinander über mögliche Lines. Wir versuchen uns vorzustellen, wie die Siegesabfahrt, eine gute Abfahrt oder ein durchschnittlicher Lauf in den einzelnen Kategorien aussehen könnte, um uns darauf vorzubereiten, was wir von den ersten Fahrern erwarten können. Aus demselben Grund versuchen wir auch, Informationen über die Schneeverhältnisse zu haben.
Wo befindet sich die Jury während des Bewerbs in Fieberbrunn und wie schaut die Beobachtung der einzelnen Athleten aus?
Wir sind im unteren Bereich des Face, aber nicht zu nahe dran, um einen besseren Überblick zu behalten. Das Beste ist, wenn wir auf der Höhe der Hangmitte sind. Aber das ist nicht immer möglich. Wir benutzen ein Fernglas - alle dasselbe Modell - und wir haben bei World-Tour-Events einen Bildschirm, auf dem wir Wiederholungen sehen können.
Was muss ein Athlet zeigen, um in Fieberbrunn erfolgreich zu sein?
Es ist immer die gleiche magische Formel: ein schneller, origineller Lauf, ohne Fehler, große Sprünge mit Tricks ... Was leichter gesagt ist als getan!
Was macht Freeriden für dich - als Judge, aber auch als ehemaliger Fahrer - so aufregend?
Die Tatsache, dass wir nie im Voraus wissen, was wir sehen werden. Es ist ein bisschen so, wie einem Maler beim Malen zuzusehen und zu erleben, wie aus einer weißen Leinwand ein Meisterwerk entsteht. Diese Freerider sind wahre Künstler, wenn es darum geht, ihre Line in den Berg hineinzuzeichnen, ohne es vorher zu üben, nur indem sie den Hang mit dem Fernglas erkunden und so ihre Line visualisieren.
Was rätst du Zuschauern, die das Event zu ersten Mal verfolgen? Worauf sollten sie bei den Runs achten?
Es ist gut, die Veranstaltung online zu verfolgen, aber es ist noch beeindruckender, die Fahrer live zu sehen, besonders wenn man nahe genug ans Face rankommt. Zuschauern empfehle ich, ein Fernglas mitzubringen, da die Fahrer in diesen großen Bergen sehr klein und kaum zu sehen sind. Wenn man sich sein eigenes Ranking erstellen will, sollte man nicht vergessen, dass die Jury von oben nach unten bewertet und sich nicht vom größten Sprung des Tages verleiten lässt.
Vielen Dank für das Gespräch.
© Freeride World Tour / J. Bartlett
4. Stopp Freeride World Tour Fieberbrunn
Die Freeride World Tour besteht aus fünf Stopps: Nachdem das Auftaktevent im japanischen Hakuba Ende Januar aus Sicherheitsgründen abgesagt wurde, konnte dieser in Kicking Horse bei Golden in British Columbia (Kanada) – dem eigentlichen zweiten Stopp der Tour –nachgeholt werden. Dritte Station ist Vallnord/Arcalis in Andorra und Stopp vier führt die weltbesten Rider nach Fieberbrunn, wo sie sich für das Finale in Verbier in der Schweiz und die Freeride World Tour 2019 qualifizieren können.