Die Schneeflüsterer
TEXT: MAXIMILIAN GERL
FOTOS: DAVID SCHREYER
Wie wird der Schnee? Um die Frage zu beantworten, muss Lukas Ruetz wissen, was diese seltsame Maschine auf dem Berg weiß. Die Wettermessstation, eine Ansammlung aus Stäben, Trichtern und Kabeln, ist für Tiroler Verhältnisse leicht zu erreichen: Vom Kühtaisattel geht es nur ein paar Meter durch den lichten Wald hinauf. Trotzdem fällt der Weg schwer, oft sinkt Ruetz bis zu den Knien in der nur scheinbar festen Schneedecke ein. „Faulschnee“, sagt er. Es hat nachts und vormittags geregnet, jetzt brennt die Sonne vom blauen Himmel. Der Schnee ist durchnässt, pappig, unangenehm. Kein Vergleich zum „Wildschnee“: diesem flockigen Pulver, von dem alle Skifahrer träumen. „Ich bin damit aufgewachsen, dass der Wetterbericht nicht stimmt“, sagt Ruetz. „Aber ich weiß auch, wie schwer das alles einzuschätzen ist.“ Wie wird der Schnee? Kaum eine Frage beschäftigt die Tiroler mehr, sobald sich der Winter nähert. Wer mitten in den Bergen lebt, hat eben ein besonderes Verhältnis zu diesem Stoff, der erst die Gipfel zuckert und dann monatelang in Weiß hüllt: Schnee bildet die Basis für den Nationalsport Skifahren und den Wintertourismus. Das Wetter als Wirtschaftsfaktor. Gleichzeitig kann starker Schneefall auch bedrohlich werden. Bäume knicken um, Straßen und Schienen vereisen, bis kein Durchkommen mehr ist, Täler und Menschen werden von der Außenwelt abgeschnitten. Eine Lawine donnert ins Tal. Die Frage nach dem Schnee ist also überlebenswichtig in Tirol. Doch die Antwort ist sehr komplex – und ändert sich permanent.
Über einer Bergkette zwischen Sellrain und Kühtai reißt der Himmel auf.
Die Kirche St. Sigmund im Sellrain im Schneegestöber.
Lukas Ruetz, 27, gehört zu denjenigen, die nach Antworten suchen. Er ist eigentlich Hotelier, zusammen mit der Familie betreibt er den Gasthof Ruetz in St. Sigmund im Sellrain. Daneben hat der studierte Geograf aus seiner Liebe zum Schnee ein zweites Standbein gemacht: Er hält Vorträge über Lawinenkunde und versorgt den Tiroler Lawinenwarndienst mit Informationen über die aktuelle Schneequalität. Auf seinem Blog berichtet er über die Wetterverhältnisse im Sellraintal. Ihn fasziniere das Thema seit der Jugend, sagt Ruetz und stapft voran durch den Faulschnee. „Es gibt um die 30 Ausdrücke für die verschiedenen Schneearten.“ Profis unterscheiden zum Beispiel nach Alter – Neuschnee, Harsch oder Firnschnee – oder sie kategorisieren nach Dichte, sprechen von trockenem oder gebundenem Pulverschnee, bis er immer schwerer zu Schwimmschnee und dann zu Eis wird.
LUKAS RUETZ
Der Tiroler interessiert sich aus zwei Gründen für die Schneelage: Zum einen führt er einen Gasthof im Sellrain. Zum anderen betreibt der studierte Geograf einen Schnee-Blog und gibt Lawinenkundeseminare: www.lukasruetz.at
Lukas Ruetz
Lawinenwarnung und Kaffee zum Frühstück
Kein Wunder, dass in Tirol ein immenser Aufwand betrieben wird, um die Materie besser zu verstehen. Die morgendlichen Radiodurchsagen des Lawinenwarndienstes gehören hier zum Frühstück wie die Tasse Kaffee. An der Universität Innsbruck lernen angehende Umweltingenieure die Geheimnisse des Schnees kennen. Und neben den großen Wetterdiensten wetteifern unzählige Blogs im Netz um die akkurateste Prognose, nach der tausende Menschen ihren Tag planen, vom Landwirt bis zum Skifahrer.
Hunderte Messstationen wurden deshalb im Lauf der Jahre aufgestellt, um dem Berghimmel so viele Informationen wie möglich zu entlocken. Und eine dieser vielen Stationen taucht nun vor Lukas Ruetz im Kühtai auf. Unter dem Gipfel des Zwölferkogels streckt ein Windmesser seine Fühler nach Böen aus. Ein Ultraschallsensor schickt unsichtbare Wellen nach unten, um die Schneehöhe zu ermitteln. Ein Gerät, das an eine Thermoskanne erinnert, fängt Niederschlag auf. Die Werte werden über eine Antenne direkt an eine Internetplattform des Lawinenwarndienstes übermittelt. Ruetz deutet hinüber zum Hochwanner, daneben, gen Westen, öffnet sich das Tal. Von dort drücken oft die Wolken herein. „Wir sind ein schneearmes Gebiet“, sagt er, „aber schneesicher.“ Das sei kein Widerspruch, sagt Ruetz: Verglichen mit anderen Regionen schneie es im Sellrain eher wenig, dafür fast immer.
Schon immer richteten die Menschen der Berge den Blick in Himmel und versuchten, ein Muster in Wind und Wolkenformationen zu erkennen. So entstanden die berühmten Bauernregeln, Sätze wie „Abendrot, Schönwetterbot“. Oder: „Am Tag von Sankt Valentin gehen Eis und Schnee dahin.“ Aber eine 14-Tage-Vorhersage kriegt man nur mit Erfahrung und Bauchgefühl nicht hin. „Pauschalaussagen sind beim Wetter generell schwierig“, sagt Manfred Bauer von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG). Sein Büro befindet sich im Flughafentower von Innsbruck – ein passender Ort für jemanden, der den Überblick behalten muss. Bauer ist gewissermaßen Tirols Chefmeteorologe, er kann gut erklären, dass mehrere Dinge in der richtigen Reihenfolge unter bestimmten Bedingungen an verschiedenen Orten passieren müssen, damit überhaupt die Aussicht auf Schnee besteht.
MANFRED BAUER
Das Büro des Wetterexperten befindet sich im Flughafentower von Innsbruck. Dort hat die Tiroler Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) ihr Hauptquartier.
Manfred Bauer
Jeder Powder-Alarm nimmt seinen Ursprung irgendwo über dem Atlantischen Ozean, „unserer Wetterküche“, wie Bauer sagt. Über dem Meer erwärmen sich Luftschichten, steigen auf und nehmen dabei Feuchtigkeit aus dem Meer mit. In der Höhe kühlt die Luft ab. Wolken bilden sich, ein Tiefdruckgebiet mit kälteren und wärmeren Luftbereichen entsteht. Diese Kalt- und Warmfronten treibt der Wind gen Europa, bis sie auf Widerstand treffen: die Alpen. Die Berggipfel bilden einen Sperrriegel, an dem die Wolken nicht vorbeikommen, bis sie genug Ballast – Wasser – abgeworfen haben. Für Tirol heißt das: Kommen die Wolken aus Süd oder Südost, bleiben sie am Alpenhauptkamm hängen, der Gipfelkette, die sich vom Reschenpass bis zu den Hohen Tauern zieht. Der Niederschlag trifft dann vor allem Süd- und Osttirol. Bei West- und Nordwinden bleiben die Wolken dagegen auf der Alpennordseite hängen, etwa am Karwendel oder der anderen Seite des Alpenhauptkamms – und damit in Nordtirol. Rangiert dann noch die Lufttemperatur zwischen unter einem und zwei Grad Celsius, stehen die Chancen gut, dass Niederschlag in Form von Schnee fällt.
Wetterumschung: Wäre es nicht wunderbar, wenn Sonnenstrahlen plus Schneeflocken einen Winter-Regenbogen ergeben würden? Schön ist es aber auch so.
Supercomputer und Schneegrenze
Um zu errechnen, was die Gesetze der Physik und Thermodynamik für unser Leben bedeuten – den Luftverkehr, die Landwirtschaft oder das Bergwochenende in zwei Wochen – wurden Wettermodelle entwickelt. Am besten stellt man sie sich als mathematische Gleichungen mit unzähligen Variablen vor. Je mehr Werte man eingibt, desto genauer, aber auch rechenintensiver wird der Prozess. In Europa haben sich mehrere Staaten zusammengetan und schicken ihre Daten ans Zentrum für mittelfristige Wettervorhersagen, wo Supercomputer die komplexen Berechnungen vornehmen. Die ZAMG betreibt daneben ein Rechenzentrum in Wien. Doch selbst diese geballte Rechenpower reicht mitunter nicht, um exakte lokale Prognosen zu treffen. Im Innsbrucker ZAMG-Büro sitzen darum die Meteorologinnen und Meteorologen vor acht Bildschirmen, um Satellitenaufnahmen, die Berechnungen der Wettermodelle und die Messdaten vor Ort zu vergleichen. Denn die hohen Berge, so schön anzuschauen, stiften Chaos. Durch das breite Inntal treibt der Wind die Wolken gern fort. Schneelöcher wie St. Anton, Seefeld oder Hochfilzen profitieren vom klassischen Winterwetter aus Nordwest, weil sich am Arlberg und entlang der Nordalpen besonders viele Wolken stauen. Regionen wie etwa Obergurgl und Galtür bekommen dagegen bei vielen Wetterlagen ein bisschen Schnee ab, weil sie recht hoch und zentral in den Alpen liegen. Und dann gibt es lokale Wetterphänomene wie die warmen Föhnwinde, die oft um Innsbruck herum auftreten.
Die Schneefallgrenze kann sich innerhalb Tirols schon mal um 1.000 Höhenmeter unterscheiden.“ Bauer
Wer nur aus dem Fenster schaut, versteht das Wetter nicht. Aber wer nur auf den Bildschirm starrt, dem entgehen auch wichtige Informationen. Um das Wesen des Schnees zu ergründen, kontrolliert Lukas Ruetz also vom Laptop aus die Daten der Messstationen in der Umgebung. Er sucht nach Auffälligkeiten, die ihm etwas über die Schneequalität verraten. Zeigt etwa die Anlage am Zwölferkogel starken Wind, könnten Böen viel Schnee aus der Westwand fortgetragen haben. Vorausgesetzt, der Sensor funktioniert und ist nicht eingefroren. Neulich meldete er Windstärke null, dabei pfiffen Stürme durchs Tal. „Da weiß man dann schon, dass die Daten nicht ganz stimmen können“, sagt Ruetz.
Überhaupt der Wind: „Das ist der wichtigste Faktor“, sagt Lea Hartl. Wenn jemand weiß, ob Skifahrer in den kommenden Wochen traurig oder enthusiastisch sein werden, dann sie. In ihrer Wörgler Wohnung drückt sich ein Schreibtisch in die Ecke unterm Fenster. Von hier aus versorgt die Meteorologin unter anderem den„PowderGuide“ mit Schneeprognosen. Die Webseite zählt zu den ersten Anlaufstellen im Netz für Tourengänger und Freerider, besonders die Schnee- und Wetterinhalte werden in der Szene geschätzt. Aus verschiedenen Quellen – die Prognosen der Supercomputer, Satellitenaufnahmen, Radar- und Stationsdaten – sammelt das PowderGuide-Team Daten und ergänzt sie durch regionale Berichte, wie sie etwa Ruetz im Sellrain erstellt. Hartl erklärt jede Woche die großräumigen Zusammenhänge, während ein Kollege sich die Schneemengen genau anschaut, wo am meisten Powder zu erwarten ist. Die Niederschlagsvorhersagen der Wettermodelle geben die Regenmenge an, die erst in Schneeflocken umgerechnet werden muss (und natürlich kann dieselbe Menge Wasser mal viel, mal wenig Schneeergeben). „Zusätzlich spielen die Temperatur am Boden und eben der Wind eine große Rolle“, sagt Hartl. Ist es windstill, bleibt Pulverschnee liegen. Bläst es zu stark, entstehen Wechten und die Lawinengefahr steigt.
Durchblick: Bergbauernhof im Sellrain – im Vordergrund der Zirmbach.
LEA HARTL
Die Meteorologin aus Wörgl versorgt unter anderem den Webservice powderguide.com mit Schneeprognosen – dabei stützt sie sich auf Satellitendaten, Computermodelle und vor allem auch Erfahrungswerte.
Lea Hartl
Theorie, Daten, Ortskenntnisse, Erfahrung: Damit kann Hartl recht genau abwägen, ob in den kommenden Tagen gute Skibedingungen herrschen. Alle Prognosen, die über etwa eine Woche hinausschauen wollen, ordnet sie jedoch dem Bereich „Glaskugel“ zu. Die Fortschritte im Bereich Computertechnologie haben zwar Wettermodelle auf ein neues Niveau gehoben. Ein mathematisches Problem können sie nicht beheben: Je länger der zu berechnende Zeitraum ist, desto mehr streuen die Variablen in den Gleichungen. Anfangs kleine Ungewissheiten summieren sich, bis am Ende eine Bandbreite unterschiedlicher Ergebnisse steht. „Im Sommer seriös zu sagen, wie der Winter in Tirol wird, ist eigentlich unmöglich“, sagt Hartl. Auch der Klimawandel mischt sich ein. Extreme Wetterereignisse mehren sich. Eine Hypothese vermutet zudem, dass durch das Abschmelzen des Eises in der Arktis der Polarwirbel ins Schlingern gerät – und es deshalb in Europa zu mehr stabilen Wetterlagen kommen könnte, Dauerniederschlag oder Dauersonnenschein. „Aber da herrscht in der Wissenschaft noch Unsicherheit“, sagt Hartl.
In einer Welt, die auf Wahrscheinlichkeiten baut, gibt es keine Gewissheiten. Und auch mit modernster Technologie kann man das Rätsel des Schnees nicht lösen. Vielleicht ist das gut so, weil man so im Winter stets über den Schnee fachsimpeln kann; weil jeder einen App-Geheimtipp hat, der nie falsch liegt, oder eine Geschichte erzählen kann, wie man abends auf dem Berg ankam und es zu schneien begann, die ganze Nacht, und morgens, ja, da schien die Sonne. „Man ist immer wieder überrascht“, sagt auch Lukas Ruetz im Sellrain. 2019 sei einmal ein starker Ostföhn aufgezogen, „so was gab es seit zehn Jahren nicht. Nirgends hat es geschneit, aber hier einen halben Meter in ein paar Stunden.“ Ruetz verlässt die Wetterstation. Für heute und morgen schaut es eher schlecht aus mit Skifahren, meint er. Doch übermorgen soll es wieder schneien, mit Temperaturen um den Gefrierpunkt und wenig Wind. Wenn es so kommt, wie er erwartet, hat sich auch das Problem mit dem Faulschnee erledigt.
Schon immer richteten die Menschen der Berge den Blick in Himmel und versuchten, ein Muster in Wind und Wolkenformationen zu erkennen.
FÜR HOBBYMETEOROLOGEN
Auf diesen Webseiten erhält man aktuelle Informationen über Schnee- und Wetterlage. Denn wir haben gelernt, dass es immer besser ist, mehrere Informationsquellen zu nutzen:
Der Lawinenwarndienst zeigt alle Messstationen in Tirol: LAWIS
Aktuelle Vorhersagen der ZAMG für Tirol: ZAMG
Interaktive Winddarstellung für Europa: Windy
Prognosen des Europäischen Zentrums für mittelfristige Wettervorhersagen: ECMWF