Neuanfang am Talschluss – Eine Aussteigerfamilie in Gramais
Wäre die Geschichte von Hubertus und Claudia Lindner nicht wahr, würde man sie wohl als realitätsfern abtun. Im Sommer 2017 saßen die beiden vor einer Holzhütte im Dörfchen Gramais, hoch über dem Lechtal, ihren gemeinsamen Sohn Darius im Arm. Eine ganz normale Jungfamilie, die ihren Traum vom Landleben verwirklicht. Hubertus zerstört gleich zu Beginn das Bild dieser Landidylle. „Ich war eine Leistungssau“, sagt er.
Claudia und Hubertus Lindner sitzen gemeinsam mit ihrem Sohn Darius vor einer Holzhütte in Gramais.
Die Gemeinde Gramais im Lechtal trägt den einmaligen Titel: kleinste Gemeinde Österreichs.
Bergführer statt Führungskraft
Als Sohn einer Bauernfamilie war ihm Leistungsdruck eigentlich fremd. Erst in der Schulzeit entdeckte „Hubs“ seinen Ehrgeiz. Der brachte ihn bis in den NÖSV Skilanglauf-Landes-A-Kader und ins Studentennationalteam und später in eine führende Position im Krankenhausmanagement. Alles lief gut, täglich standen acht bis zehn Termine in seinem Kalender, der ein Jahr im Voraus ausgebucht war. „Das war schon toll als junger Typ, da habe ich mich als studierter Wirtschaftsinformatiker voll ausleben können.“ IT, Organisations- und Strategieentwicklung waren seine Aufgaben, die er mit Hingabe erfüllte. Hubs erzählt weiter. Von sechzehn Stunden langen Arbeitstagen. Und von einem seltsamen Phänomen: „Je mehr ich gearbeitet habe, desto mehr war ich in den Bergen.“ Er lebte das Prinzip Leistung auch in seiner Freizeit. Wenn er abends um zehn Uhr nach Hause kam, ging er noch zwei Stunden lang Joggen.
Das hat mich erst auf die Idee gebracht, richtig ehrlich zu ihr zu sein
Der Mann, der das alles von sich erzählt, steht barfuß da, beim Blick auf seine Unterarme wird einem bewusst, was der Begriff „sehnig“ wirklich bedeutet. Jede Ader zeichnet sich einzeln ab. Claudia, seine Frau, wiegt den gemeinsamen Sohn Darius und stellt sich vor: „Ich bin aus Dresden, ein oller Ossi.“ Die studierte Marketing-Fachfrau lebt und arbeitet schon seit ein paar Jahren im Lechtal. Hubertus hat sie übers Internet kennengelernt. Das erste Date war eine Katastrophe. Es gab nämlich keines. Hubertus erzählt: „Da habe ich sie leider versetzt und bin noch geschwind in die Ortler-Nordwand eingestiegen, weil die Verhältnisse so gut waren.“ Daraufhin erklärte ihm Claudia, dass sie keinen Bock auf solche Freaks und Egomanen wie ihn hätte, sondern einfach ehrlich behandelt werden will. „Das hat mich erst auf die Idee gebracht, richtig ehrlich zu ihr zu sein“, ergänzt Hubertus.
Wie aus einem Bilderbuch liegt das romantische Bergbauerndorf Gramais inmitten von grünen Wiesen und der steil heraufragenden Bergflanken der Lechtaler Alpen.
Claudia gab ihm dennoch eine Chance, er pendelte ein Jahr lang beinahe jedes Wochenende vier, fünf Stunden lang von seinem Arbeitsort ins Lechtal. Außer, wenn er für seine Bergführerausbildung unterwegs war, die er parallel absolvierte. Die dreijährige Bergführerausbildung wäre für sich genommen schon ein Vollzeit-Job. Das bekam auch Hubertus zu spüren: „Jedes Mal, wenn ich zu einem Ausbildungskurs gekommen bin, hätte ich eigentlich Urlaub gebraucht.“ Mit 35 Jahren traf er dann die längst überfällige Entscheidung. Hubertus kündigte seinen Managerposten, verzichtete auf seinen teuren Dienstwagen und auf sein gutes Gehalt. „Ich habe gespürt, wie sehr auf einmal eine komplette Persönlichkeit von mir abgefallen ist. Das ganze Ego, das ich mir als leistungsorientierter Mensch aufgebaut hatte.“
Eine komplette Persönlichkeit fiel von mir ab.
Hubertus mit seinem Husky „Vallu“.
Sein neuer Traum war es, gemeinsam mit Claudia eine Bergschule aufzubauen, am Bauernhof seines Vaters. „Mein Vater hat mich als Karrieresau wahrgenommen. Er hat nicht verstanden, warum ich meinen Job eigentlich kündige und jetzt Bergführer sein will.“ Der Traum schien dennoch greifbar nahe, die Abschlussprüfung zum Bergführer klappte: „Vieles war gut“, erzählt er mir. Nach mehreren Wochen als Bergführer in den Westalpen merkte er, dass etwas nicht stimmte. Hubertus hatte Erschöpfungszustände und Depressionen. „Da hat der Körper nachgelassen. Ich war nicht mehr bereit, zu führen, habe mich nicht mehr wohl gefühlt. Zwei Tage später war die Gehirnblutung da.“ Ein Anorisma war in seinem Kopf geplatzt, er schwebte in Lebensgefahr. „Wenn die Arterie platzt, ist das wie wenn du einen Gartenschlauch auf Eis richtest. Von hundert Leuten werden drei wieder so ganz, wie ich bin.“ Das war am 24. August 2014. Den bezeichnet Hubertus als seinen zweiten Geburtstag. „Ich war immer ein Mensch, der wahnsinnig viel Gas gegeben hat und das war letzten Endes wahrscheinlich auch der Grund, warum da oben die Ader geplatzt ist.“
Altes, neues Base Camp
Den Plan, eine eigene Bergschule aufzubauen, verfolgten Hubertus und Claudia trotzdem weiter. Sie entdeckten das Bergdörfchen Gramais für sich. Claudia erzählt: „Viele haben gesagt, wir sind verrückt.“ Sie fand eine alte Postkarte aus den sechziger Jahren mit der Aufschrift „Base Camp Gramais“. Beinahe an derselben Stelle wie damals entsteht nun eine Bergschule, weil sie da auch hingehöre, ergänzt Claudia. Hier wohnen die beiden nun – und haben auch ein kleines Hostel angebaut, in dem Bergsteiger günstig übernachten können.
Viele haben gesagt, wir sind verrückt.
Claudia hält ihren Sohn Darius im Arm.
Damals war die Bergschule noch eine Baustelle.
Das Treffen mit den beiden fand knapp ein Jahr vor der Eröffnung statt. Damals war die Bergschule noch eine Baustelle. Aber im Sommer 2018 wurde sie offiziell eröffnen. Auch das bedeutete viel Arbeit. Für Hubertus ist es die Arbeit als Bergführer, für Claudia die Grafikagentur: „Eigentlich haben wir keine Pause, außer im November. Aber wir gehen um acht Uhr abends schlafen. Dass wir so viel buckeln, haben wir uns selbst ausgesucht. Vielleicht schafft es Darius, uns ein bisschen zu entschleunigen.“ Auszeiten gibt es für beide eigentlich nicht, außer wenn sie abends gemeinsam am Balkon sitzen oder eine Runde mit dem Hund drehen. Für Hubertus beginnt der Arbeitstag um fünf Uhr morgens mit einer Bergtour und ist gegen 14 Uhr vorbei. „Danach kümmere ich mich um meine Familie. Das ist kein negativer Stress für mich. Und auch das Bergführen nicht.“ Er weiß, dass er den Bogen einige Jahre lang überspannt hat. Hubertus schaut erst Claudia an, dann Darius – und sagt: „Ich bin froh, dass ich weiterleben darf.“
Hubertus spielt mit seinem Husky „Vallu“ auf der Wiese.