Die pure Freiheit: Naturnah urlauben auf Tirols Almhütten.
Hirten auf Zeit
Auszeit auf der Hochalm.
Amüsiert beobachtet Quirin die Kuh, die mit ihrer rauen Zunge an seinem Schienbein leckt. Er sitzt auf einem Bretterzaun, seinen Hirtenstab in der Hand, ein Fernglas um den Hals. Abwechselnd schaut der Sechsjährige nach links auf die Braungefleckte, die seiner salzigen Haut zu Leibe rückt, und nach rechts zu seinem Vater, der sich hinter dem Zaun mit einem Lasso, einem jungen Stier und einer Kuhglocke abmüht. Über ihnen erheben sich die felsigen Gipfel der Schobergruppe in den Osttiroler Sommerhimmel.
Für einen Sommer auf der Alm in Osttirol.
Vater Janis muss vorsichtig sein mit dem jungen, unkastrierten Wilden. Der Respekt vor den Hörnern ist ihm anzusehen. Ein paar Anläufe braucht der 38-Jährige, dann hat er den Stier eingefangen, dem die Aussicht auf eine Glocke am Hals ein Graus zu sein scheint. Für einen Großstädter wie ihn wirkt der Umgang mit dem Vieh schon ziemlich routiniert.
Janis ist bereits geübt im Umgang mit den Tieren.
Früh übt sich: Janis‘ Sohn Quirin versucht sich als Kuhhirte.
Janis Pönisch und seine Frau Sarah Kofler leben mit ihren zwei Kindern eigentlich in München. Sarah ist ausgebildete Krankenpflegerin, Bewegungspädagogin und Yogalehrerin, Janis ist Innenarchitekt und arbeitet als Gitarrenbauer und Designer. Einmal im Jahr aber nehmen sie sich eine Auszeit in einer vollkommen anderen Welt: Hier oben, auf der 2.000 Meter hoch gelegenen Trelebitschalm im Debanttal, führen sie zwei Monate lang – zwischen Almauftrieb und Almabtrieb – das Leben einfacher Hirten. In einer alten, geschätzt 16 Quadratmeter kleinen Almhütte. Ohne Internet, ohne Mobilfunk, ohne Strom, ohne Fernsehen. Dafür mitten im Nationalpark Hohe Tauern.
Janis und Sarah.
Sarah ist offiziell als Hirtin eingetragen.
Janis ist eigentlich Innenarchitekt.
„Ich habe meinen Zivildienst auf einem Kinderbauernhof geleistet“, sagt Janis. Daher stamme seine einzige Erfahrung mit Tieren, die er auf die Alm mitgebracht habe, als sie vor sechs Jahren das erste Mal zusammen herkamen. Nicht viel also, seine Frau Sarah aber habe ihm am Anfang geholfen. „Sie hat die Gene einer Bäuerin“, sagt er. Sarah ist unten in Stronach, nur ein paar Kilometer Luftlinie entfernt, auf einem Bergbauernhof groß geworden.
Ich bin als Kind oft hier oben gewesen
Ein kurzer Blick auf den jungen Stier, der sich mit Glocke am Hals wieder in die Herde einfügt, und dann geht es auf einem steilen, schmalen Pfad hinunter zur Hütte, vorbei an einem Wasserfall und vereinzelten Zirben, die hier im Bereich der Baumgrenze kaum größer werden als ein Christbaum für’s Wohnzimmer. In der kleinen Zwei-Raum-Hütte empfängt Sarah die beiden Rückkehrer mit einem riesigen Kaiserschmarrn, den sie in einer schweren, schmiedeeisernen Pfanne zubereitet hat und nun mit Puderzucker und Blaubeeren aus dem Wald bestreut. Der kleine Nino, gerade 15 Monate alt, und Gustav, ein Nachbarsjunge aus München, der für ein paar Wochen dabei ist, haben schon die Gabeln in der Hand.
Die Familie beim selbstgemachten Kaiserschmarrn.
Gustav und Quirin mit blauen Zungen nach dem Blaubeerenessen.
„Ich bin als Kind oft hier oben gewesen“, erzählt Sarah, während sich die Fünf über das süße Mittagessen hermachen. Sie habe immer den alten Hirten besucht, der 47 Jahre in der Hütte lebte. Ein einarmiger Mann, der nur Kerzen verbraucht habe und sonst nichts wollte, nicht einmal ein Plumpsklo. Die Hütte ist heute so wie damals nur mit dem Nötigsten eingerichtet: ein Holzofen zum Kochen und Heizen, eine Sitzecke, zwei Betten, Pfannen und Töpfe an der Wand.
Knapp 16 Quadratmeter klein ist die Almhütte.
Die Zeit auf der Alm ist für uns das eigentlich wahre Leben.
Die Familie nimmt sich zwei Monate Auszeit.
Irgendwann, als Quirin ein Baby war, erfuhren Sarah und Janis, dass der Hirte nicht mehr konnte, er hatte Knieprobleme. Sie besuchten ihn, schlugen ihm vor, seine Nachfolge anzutreten. Er war einverstanden. „Es ist sehr schwer, Hirten zu finden. Deshalb hat er sich gefreut“, sagt Janis. Für die Almbewirtschaftung erhält die Agrargemeinschaft, der die Almhütte gehört, Fördergeld. Eine sogenannte Alpungs- und Behirtungsprämie. Davon bezahlen sie Sarah, die offiziell als Hirtin angemeldet ist, und Janis 2.500 Euro für das Hüten der 34 Kühe, Kälber, Ochsen und Jungstiere. Melken müssen die beiden nicht – auf ihrer Hochalm stehen nur alte sowie tragende Kühe, die ihre Kälber erst nach dem Almabtrieb zur Welt bringen. Für zwei Monate Arbeit mag das nicht viel Geld sein. Aber das ist den beiden egal. „Die Zeit auf der Alm ist für uns das eigentlich wahre Leben“, sagt Sarah. Und das sei unbezahlbar.
Die Trelebitsch Alm liegt auf 1.963 Metern über dem Meeresspiegel.
Während Janis mit Quirin Knoten übt – auch auf einer Almhütte können Seemannsknoten nützlich sein – erzählt er, dass sie früher ihren Urlaub auch mal in Kroatien oder Marokko verbracht hätten. Hier oben aber, der Zivilisation buchstäblich enthoben, hätten sie die Einfachheit des Lebens für sich entdeckt. „Wir genießen es, dass nichts piept, kein Strom da ist und keine Uhren ticken“, sagt Janis. Das helfe, sich wieder nach dem inneren Rhythmus zu richten und sich ans Tageslicht zu halten, ergänzt Sarah, die bewusst kein Smartphone nutzt. „Wir gehen ist Bett, wenn wir müde sind und stehen auf, wenn wir wach werden.“
Quirin und Janis beim Üben von Seilknoten.
Von klein auf lernt Nino das Leben auf der Alm kennen.
Janis' selbstgeschnitztes Töpfchen.
Immer wieder bekommt die Familie Besuch von Sarahs Eltern und Geschwistern, die Obst und Gemüse aus ihren Gärten im Tal mitbringen und die 300 Höhenmeter vom Wanderparkplatz im Debanttal zur Alm hinauftragen. Das ist den beiden Hirten höchst willkommen. Denn außer Kräutern gedeiht auf 2.000 Metern Höhe nicht viel, und die beiden möchten sich so weit wie möglich selbst versorgen. Sarah ist darin Expertin. Sie kennt sich nicht nur mit Kräutern aus, kocht ein, backt Brot und kreiert Ravioli, sie stellt sogar Putzmittel und Zahnpasta selbst her – aus rein natürlichen Inhaltsstoffen wie Natron, Mineralerde und Aktivkohle.
Neben Kühen, gibt es auch Hühner auf der Alm.
Sarahs selbstgebauter Kräutergarten.
Der Brunnen dient auch als Kühlschrank.
Diese zwei Monate im Sommer – sie sind die Essenz ihres Lebens, wie Sarah und Janis sagen. Und doch kehren sie danach immer wieder nach München zurück. Das Leben dort wollen sie nicht missen. Aber sie versuchen, so viel wie möglich von der Alm mitzunehmen in die Hektik der Großstadt. Vor allem die Gelassenheit und den Bio-Rhythmus, der ihnen auf der Alm so selbstverständlich ist.
Wenn sie Anfang September wieder zurückreisen in ihren Münchner Alltag, falle die Trennung schwer, sagt Sarah. Entsprechend früh melde sich die Vorfreude auf den nächsten Sommer. Sehr früh sogar. Im Januar.