Eine von 757 Tausend: Wie Sara von Schweden nach Tirol kam
Sara tischt zur Begrüßung selbst gemachte Kanelbullar auf, die schwedische Version von Zimtschnecken. In ihrem neuen Zuhause am Achensee versetzt mich auch das Interieur nach Skandinavien. Die Schwedin hat es eindeutig in Anlehnung an ihre alte Heimat gewählt. Sogar das Gartenhäuschen zeigt (schwedische) Flagge. „Beim Begriff Heimat denke ich schon eher an Schweden“, sagt sie, „aber bei Zuhause denke ich eher an Tirol. Das ist einfach da, wo ich jetzt wohne und lebe.“ Seit Ende 2015 wohnt Sara mit ihrem österreichischen Lebensgefährten am Achensee, davor waren die beiden in Innsbruck zuhause, wo sie sich vor ein paar Jahren kennen gelernt hatten.
Eigentlich wollte Sara nur für ein Jahr nach Innsbruck kommen, um Deutsch zu studieren, gemeinsam mit 15 anderen Schwedinnen und Schweden. Geworden sind es inzwischen neun Jahre. „Ich habe am Anfang alles hier geliebt und fand alles einfach super“, sagt sie. Als die anderen zurück nach Schweden gingen, blieb Sara in Tirol und begann hier mit dem Studium der Politikwissenschaften. Die Sprache war für sie anfangs die größte Herausforderung. Außerdem war die zurückhaltende Schwedin von der manchmal recht forschen Tiroler Art überrascht, zum Beispiel bei Behördengängen. Absolutes Neuland war für Sara auch die recht strenge Hierachie an der Uni und dass sich viele Menschen hier mit ihren akademischen Titeln wie Magister oder Doktor ansprechen. Das Studium hat sie inzwischen abgeschlossen, jetzt arbeitet sie beim Integrationszentrum Tirol.
„Die Leute hier sind einfach weltoffen“
In der Freizeit seien die Menschen hier umso zugänglicher, erzählt mir Sara: „Wenn du beispielsweise irgendwo am Berg unterwegs bist, sprechen die Leute gleich mit dir, sind interessiert, fröhlich, machen Schmähs und sind einfach weltoffen. Das kenne ich von Schweden nicht so, dort ist schon mehr Distanz da.“ Beim Studium der Politikwissenschaft an der Uni sei es ihr beinahe peinlich gewesen, dass Schweden immer wieder als Vorbild genannt wurde, egal ob es um das Bildungssystem, die Gleichstellung von Mann und Frau oder um die Kinderbetreuung ging.
Schwedische Gastfreundlichkeit: Bei Sara gibt’s Kanelbullar zur Begrüßung.
„Mein Freund versteht die Unterschiede zwischen Schweden und Österreich.“
Sogar das Häuschen im Garten zeigt Flagge.
Während ihres Studiums arbeitete Sara nebenbei in der Innsbrucker Filiale einer schwedischen Sportbekleidungsfirma. Schließlich kam ein Kunde zur Tür herein, dessen Kopf ein Stirnband mit der Aufschrift „Ski Team Sweden“ zierte. Sara hielt ihn erst zunächst tatsächlich für einen Schweden. Im Gespräch stellte sich dann zwar heraus, dass er Österreicher ist, aber auch ein begeisterter Hobby-Langläufer und Schweden-Fan. Heute sind Sara und er ein Paar: „Durch ihn fällt es mir sicher leichter, im Ausland zu wohnen. Mit ihm kann ich immer schwedisch sprechen, er versteht auch die Unterschiede zwischen Schweden und Österreich.“
Mit ihrem Freund teilt Sara auch die Natur- und Sportbegeisterung. Beide reisen gern, wollen immer wieder neue Plätze kennen lernen. Einmal wanderten sie eine Woche lang bei strömendem Regen durch die norwegische Wildnis. Ein anderes Mal paddelten und wanderten die beiden in Nordschweden mit einem Faltboot mehrere Tage einen Fluss entlang. Mit dieser Naturverbundenheit hat auch mein heutiger Besuch bei Sara zu tun. Sie geht zur Garage und zeigt mir ein Kajak. Damit dreht sie abends oder an Wochenenden gern eine Runde am Achensee. Ihr Freund hat eigens dafür eine Fahrrad-Anhängevorrichtung gebastelt.
„Jetzt lebe ich so wie ich will“
Was das Lebensgefühl eigentlich in Österreich von jenem in Schweden unterscheide, frage ich Sara. „In Schweden ist immer ein Druck da, neuen Trends zu folgen. Du musst deine Tapeten wechseln, deine Vorhänge wechseln, du musst die neueste Mode haben – viel in deinem Leben kreist ständig um diese Trends.“ Jedes Mal, wenn Sara ihre Familie in Schweden besucht, begegnet sie wieder diesem starken Trendbewusstsein ihrer Landsleute. „Das kann sein, dass jetzt alle Bier brauen. Oder jetzt sollen alle Gemüse einlegen. Ich möchte einfach nur leben und nicht so viel an all diese Sachen denken.“ Stockholm ist ihrer Meinung nach die hektischste Großstadt Europas. Diesen Druck, ständig neuen Trends zu folgen, verspürt Sara in Tirol nicht. „Jetzt lebe ich so, wie ich will und orientiere mich nicht mehr so an Trends, weil das interessiert hier die wenigsten.“
Mit gekonnten Griffen befestigt Sara das Kajak am Fahrrad und fährt los. Ich borge mir das Mountainbike von ihrem Freund und radle hinterher. Sara erzählt mir nebenbei von Hawaii, wo sie mal ein Jahr als freiwillige Küchenhilfe auf einem Campus verbrachte. „Ich wollte einfach verschiedene Kulturen und andere Plätze kennen lernen.“ Dennoch kehrte sie Hawaii nach der Zeit als Freiwilligenarbeiterin wieder den Rücken. „Es war schön, aber kein Ort, an dem ich länger bleiben wollte. Das Meer ist wohl doch nicht so meine Sache.“ Sie fährt eine weite Kurve und behält dabei das hinterherrollende Kajak aus den Augenwinkeln im Blick.
Sara nutzt ihr Fahrrad als Transportmittel fürs Kajak.
In Tirol finden Sara und ihr Freund das Abenteuer direkt vor der Haustür: „Jetzt bleiben wir doch wirklich viel hier. Im Winter zum Skifahren, zum Langlaufen und im Sommer gehen wir Paddeln – am See und auch im Wildwasser.“ Mit Wandern und Mountainbiken hat Sara erst hier begonnen. „Je mehr ich draußen in der Natur bin, desto süchtiger werde ich danach.“ Der Sport und die Natur helfen ihr, von der Arbeit abzuschalten. Sie pendelt dafür täglich mit der Bahn zwischen Jenbach und Innsbruck, der schnellste Zug benötigt nur 17 Minuten für diese Strecke.
„Der heißt ja auch Fjord der Alpen, oder?“
Wir rollen auf unseren Fahrrädern leicht bergab, der Achensee breitet sich vor uns aus. Bei diesem Anblick kann ich verstehen, warum Sara unbedingt hierher ziehen wollte. „Seitdem ich am Achensee wohne, fühle ich mich hier noch mehr zuhause. Der heißt ja auch Fjord der Alpen, oder?“ In Schweden wäre sie nie aufs Land gezogen, weil dort einfach alles sehr weit weg ist – die Schulen, Lebensmittelgeschäfte, Banken, Gasthäuser. In Tirol sei das alles in der Nähe, auch wenn man am Land wohne.
„Ein bisschen Wikinger“
Sara stellt das Rad ab, klinkt das Boot aus und lässt es ins Wasser gleiten. Sie ist ganz in ihrem Element. Wie zur Bestätigung sagt sie zu mir: „Wenn alles ruhig ist, sich die Berge im Wasser spiegeln, dann muss ich einfach mit einem Lächeln paddeln. Es beruhigt einfach extrem.“ Extrem sind auch Saras Badegewohnheiten, die sie von Schweden nach Tirol importiert hat. Das Eisbaden fehle ihr hier: „Dass man einfach ein Loch im Eis macht und dort badet.“ Der Achensee ist zwar wegen seiner Lage auf rund 1.000 Metern Höhe eher kühl – aber Eisbaden?
Dementsprechend früh beging Sara auch ihren ersten Badetag in diesem Jahr. Nämlich am 2. April, direkt nach einer Skitour bei Achenkirch am anderen Ende des Sees. „Ich muss ja irgendwie zeigen, dass ich noch ein bisschen Wikinger bin“, sagt die Schwedin und lacht. Die Luft sei meistens wärmer als das Wasser, „und dann frierst du eigentlich überhaupt nicht. Das geht dann wie Strom durch den Körper.“ Sara stößt sich mit dem Paddel vom Ufer ab und gleitet in ihrem roten Kajak hinaus auf den See. Dass sie das Leben am Wasser so sehr liebt, liegt nahe. Denn Sara ist in Kristinehamn aufgewachsen, einer Stadt, die beim größten See der Europäischen Union liegt – dem Vänern. Würde er in Tirol liegen, stünde knapp die Hälfte dieses Bundeslandes unter Wasser.
„Für mich ist das mit dem See wohl genauso wie mit den Bergen für eine Tirolerin.“
Das Kajak kommt wieder näher, ich erkenne ein breites Lächeln auf Saras Gesicht, als sie anlegt und das rote Gefährt wieder an Land zieht. Sie wollte nie denselben Weg gehen wie alle anderen und ist schließlich hier gelandet. „Früher habe ich – egal wo ich war – immer gedacht, es gibt sicher irgendwo einen anderen Platz, der besser ist. Aber jetzt habe ich nicht das Gefühl, dass ich irgendwo anders hinwill.“
„Ich bleibe, bis ich Jodeln kann“
Manchmal fehlt Sara ihr Geburtsland Schweden doch noch: „Am Anfang habe ich nur Kleinigkeiten vermisst wie Süßigkeiten und den Käse, aber je länger ich da bin, desto mehr vermisse ich die Familie, die schwedische Mentalität, dieses ganz spezielle Licht an langen Sommertagen. In Innsbruck, wenn ich Schweden sehr vermisst habe, bin ich zum IKEA gefahren und habe dort Kötbullar gegessen.“ Und manchmal trat sie dort auch als Sängerin auf, anlässlich des schwedischen Lichterfests zur Wintersonnenwende. Sie absolvierte aber auch schon mal einen zweitägigen Jodelkurs: „Ich habe gesagt, ich muss so lange in Tirol bleiben, bis ich Jodeln kann.“ Bevor wir uns verabschieden, frage ich Sara, ob sie denn schon Jodeln könne. Sie lacht und antwortet: „Ich hab’s versucht. Aber ich bekomme es einfach nicht hin.“
„Jetzt habe ich nicht das Gefühl, dass ich irgendwo anders hinwill.“Fotos: Carlos Blanchard Nerin