Wiltener Sängerknaben: Hinter den Kulissen
Ein Probenbesuch bei den Wiltener Sängerknaben: Adventstimmung mit hellen Knabenstimmen, Bach und „Stille Nacht! Heilige Nacht!“.
Text: Julia Tapfer
Bild: Axel Springer
Es ist ein fast unüberschaubares Gewusel, wenn 30 Kinder gleichzeitig in den Probenraum neben der Innsbrucker Stiftskirche strömen. Einige schlittern auf ihren Socken zum Regal mit den Notenbüchern. Die blauen Bücher zu Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium stapeln sich in unsicher wirkenden Türmen auf einer Holzablage. Dennoch schafft es jeder der jungen Sänger, sein Exemplar mit einem sicheren Handgriff herauszuziehen, ohne dass der Bücherstapel umfällt. Bis jeder auf seinem Stuhl sitzt, dauert es ein paar Minuten – einige klettern über die Stuhlreihen, anderen fällt auf, dass sie doch noch etwas vergessen haben, und sie springen nochmal schnell auf. Doch sobald Johannes Stecher den Burschen signalisiert, dass er mit der Probe anfangen will, werden alle schlagartig still.
Im Getümmel: DIE SÄNGER KURZ VOR PROBENBEGINN.
Vorbereitung: NOCH SCHNELL DAS NOTENBUCH HOLEN ...
Einsingen: ... UND DIE PROBE BEGINNT.
„Arme hängenlassen, schöne Haltung einnehmen!“
Der künstlerische Leiter der Wiltener Sängerknaben beginnt mit der chorischen Stimmbildung. Das Einsingen ist für die Sänger so wichtig wie das Aufwärmen für einen Sportler. Johannes Stecher singt mit den Kindern verschiedene Tonfolgen und Akkordbrechungen auf „u“. Er begleitet am Klavier und gibt immer wieder Anweisungen: „Einmal forte, einmal piano, einmal forte!“ – „Arme hängenlassen, schöne Haltung einnehmen!“ Die Sänger stehen aufrecht da und bemühen sich, die Anleitungen ihres Chorleiters umzusetzen. Fast zwei Stunden lang, bis kurz vor 20 Uhr, proben die Altstimmen des Konzert- und Repertoirechors heute gemeinsam. Die jüngsten unter ihnen sind erst sieben, manche sind schon etwas müde und gähnen.
Tristan (l.), Josef (o.l.), Matteo (o.r.). Raphael (u.l.) und Florian (u.r.) vor der Probe. Von ihren Mitschülern wurden die Sängerknaben früher manchmal gehänselt. Jetzt finden die meisten ihr Hobby aber cool.
Warum sie zu den Sängerknaben gegangen seien? Tristan, Josef, Matteo, Raphael und Florian sitzen vor der Probe beisammen und erzählen, wann das Singen für sie so eine zentrale Rolle einnahm. Tristan ist mit seinen elf Jahren der jüngste der fünf Altsänger und Freunde. Er war schon kurz vor seinem fünften Geburtstag bei Proben der Wiltener Sängerknaben dabei, „Meine Mama ist hier Stimmbildnerin“, erklärt er. Josef war hingegen schon zehn Jahre alt, als sein Vater ihm vorschlug, zu den Sängerknaben zu gehen: „Das weiß ich noch ganz genau. Ich übte gerade ‚Stille Nacht' auf dem Cello und wollte dazu singen. Beides gleichzeitig hat aber nicht geklappt, deshalb habe ich nur gesungen. Und das hat mein Papa gehört“, schmunzelt der 13-Jährige.
„Stille Nacht! Heilige Nacht!“ hat aber nicht nur bei Josefs Entscheidung, den Wiltener Sängerknaben beizutreten, eine wichtige Rolle gespielt, sondern ist für den ganzen Chor bedeutend. Das Weihnachtslied, bei dessen weltweiter Verbreitung Tiroler Sängerfamilien maßgeblich beteiligt waren, gehört zum Standardrepertoire des Chors. Johannes Stecher hat für seinen Knabenchor einen fünfstimmigen Satz geschrieben, meist singen die Sängerknaben „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ a cappella oder mit Orgelpositiv-Begleitung. „Uns geht es dabei darum, schlicht zu musizieren. Es geht um das Einfache. Wenn das Lied so authentisch und ungekünstelt von Kindern vorgetragen wird, berührt es oft am meisten“, weiß der Chorleiter aus Erfahrung. Er selbst ist oft bei den Proben ganz gerührt: „Sobald ich bei einer Probe sage, dass wir jetzt ‚Stille Nacht' proben, schauen mich große Kinderaugen an. Sie sind ruhiger und aufmerksamer als sonst. Sie spüren schon, dass das ein ganz besonderes Lied ist.“
Johannes Stecher, künstlerischer Leiter der Wiltener Sängerknaben, bei der Probe am Klavier.
200 Jahre „Stille Nacht! Heilige Nacht!“
Das Aufführen von „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ sei manchmal eine Gratwanderung, erklärt Stecher. Manche Leute finden, dass das Lied exklusiv am Heiligen Abend gesungen werden dürfte, andere singen es schon in der Adventszeit oder auch bis zum Dreikönigstag am 6. Jänner. Die Wiltener Sängerknaben halten es so, dass sie „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ nur um die Weihnachtsfeiertage herum singen. Heuer werden sie es bei den zwei mittlerweile schon traditionellen Weihnachtsfeiern in den Wohnheimen St. Raphael und Saggen sowie bei einer geschlossenen Veranstaltung am Stephanstag singen. Das mehrstimmige „Stille-Nacht"-Singen gefällt den Chorsängern sehr gut: „Das ist einfach cool und klingt gut“, sagen die fünf Burschen. 2018 feiert „Stille Nacht! Heilige Nacht“ sein 200-Jahr-Jubiläum. Dafür will sich der künstlerische Leiter etwas ganz Besonderes ausdenken. „Vielleicht widmen wir unser traditionelles Konzert ‚Weihnacht in Tirol' in der Wallfahrtskirche Götzens dem Lied, dann könnten wir verschiedene Bearbeitungen in den Mittelpunkt stellen“, überlegt Johannes Stecher. Bevor es an diese Planung geht, steht aber aktuell noch einiges auf dem Programm für die Wiltener Sängerknaben. Etwa das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach, das am 22. Dezember 2017 in der Wiltener Basilika aufgeführt wird.
Je öfter die Burschen Bachs Werke singen, desto mehr Freude haben sie daran, erzählt der Chorleiter. Als er neulich während einer Probe ganz begeistert fragte: „Was gibt es denn Schöneres als Bach?“, zeigte Florian auf und antwortete überzeugt: „Noch mehr Bach!“
Das Weihnachtsoratorium
Kaum sagt Johannes Stecher an, welches Stück nun geprobt wird, schnellen viele Kinderhände nach oben. Sie betteln förmlich darum, ausgewählt zu werden. Wen wird Johannes Stecher wohl aussuchen, um die Solostimme probieren zu dürfen? Die Wahl fällt diesmal nicht auf Raphael. Etwas enttäuscht bleibt er sitzen und singt mit dem Chor mit, während ein älterer Sänger aufstehen und die Solostimme singen darf. Johannes Stecher spielt am Klavier, die jungen Sänger singen ihren Part von Bachs Weihnachtsoratorium. Hin und wieder unterbricht der Chorleiter und gibt Anleitungen: „Da bei den Sechzehnteln müsst ihr euch wahnsinnig beeilen, damit ihr nicht schleppt. Manchmal seids da hinten nach!“ Und schon wird die nächste Stelle aus dem Weihnachtsoratorium ins Visier genommen. Die Zeit zum Proben ist knapp bemessen.
Raphael darf eine Solostelle aus der Matthäus-Passion singen.
In der Weihnachtszeit proben die Wiltener Sängerknaben aber nicht nur Bachs Weihnachtsoratorium, sondern auch schon intensiv die Matthäus-Passion. Diese wird am ersten Fastensamstag, am 17. Februar 2018, aufgeführt. Wieder schnellen die Hände nach oben – und diesmal hat Raphael Glück. Johannes Stecher wählt ihn aus und stolz steht er auf und singt den Solopart. Sein Wunsch wäre es, auch beim Auftritt im Februar eine Arie singen zu dürfen. Tristan hofft seinerseits auf ein Rezitativ.
Immer wieder unterbricht Johannes Stecher das Singen, um seinen Sängern verschiedene Fragen zu stellen? „Was bedeutet denn diese Textstelle?“ Oder: „Was glaubt ihr, wollte Bach damit ausdrücken?“ Gespannt hören die jüngeren Kinder den älteren zu, wenn diese ihre Ideen mit allen teilen oder der Chorleiter etwas erklärt. Seit 25 Jahren schon ist Johannes Stecher künstlerischer Leiter der Wiltener Sängerknaben. Seine Arbeit bezeichnet er als sehr bereichernd. Wenn er selbst manchmal etwas müde werde, schöpfe er Kraft aus der Jugend. „Die Kinder und Jugendlichen sind so voller Energie und Lebensfreude. Das ist etwas unglaublich Motivierendes“, schwärmt der Chorleiter. Sich selbst empfindet er gewissermaßen auch als Jugendarbeiter.
Johannes Stecher studierte am Mozarteum Musik- und Instrumentalmusikerziehung sowie Gesangspädagogik und am Konservatorium des Landes Tirol Konzertfach Orgel. Er besuchte als Bariton und Dirigent zahlreiche Kurse und Meisterkurse und war 18 Jahre lang Direktor der Musikschule Telfs. Die Wiltener Sängerknaben übernahm er vor 25 Jahren und verhalf ihnen zu neuer Blüte.
„Der Stimmbruch ist keine Krankheit.“
Der Stimmbruch ist bei den Wiltener Sängerknaben kein Grund, aus dem Verein auszuscheiden. „Wir möchten ja nicht, dass der Junge mit 13 Jahren aufhört zu singen, sondern wir wollen ihm für sein ganzes Leben Freude mit der Musik mitgeben und seine Stimme ausbilden“, erklärt Stecher. Während des Stimmbruchs ist es wichtig, dass der Junge im gerade für ihn passenden Register singt. Bei der individuellen stimmlichen Betreuung, die jeder Sängerknabe erhält, bekommen die Jungen auch eine Anleitung, wie sie mit dem Stimmbruch umgehen können. „Der Stimmbruch ist keine Krankheit“, betont Johannes Stecher immer wieder. Die Stimme verändere sich ein Leben lang, in der Pubertät eben am meisten. Gerade in dieser oft schwierigen Phase für die Jugendlichen wirke es sich sehr positiv aus, wenn sie bei einem Verein bleiben können, eine Aufgabe haben und beschäftigt sind. Als weiteren positiven Nebeneffekt hat Johannes Stecher dadurch einen Chor mit zirka 50 Männerstimmen – also Tenor, Bariton und Bass. So ist er bei der Literaturauswahl unglaublich flexibel.
Markenzeichen der Sängerknaben
Die Wiltener Sängerknaben treten in der traditionellen Wiltener Tracht auf. „Damit machen wir immer Aufsehen und die Tracht ist auch sehr fesch. Wenn wir in China auftreten, haben wir die Herzen der Menschen damit schon gewonnen", schmunzelt Johannes Stecher.
Tiroler Lieder und alpenländische Weisen haben für den Chor einen großen Stellenwert. Kürzlich brachten die Wiltener Sängerknaben ihre neue CD mit den schönsten Volksliedern des Alpenraums heraus.
Von Innsbruck bis nach China
Im Jahr haben die Wiltener Sängerknaben zwischen 30 und 60 Auftritte und kommen dabei weit in der Welt herum. Alle zwei Jahre gehen sie auf eine vierwöchige Konzerttournee durch China. „Wir müssen mit vielen verschiedenen Schulen kooperieren. Es wäre nicht möglich, die Kinder mitten im Schuljahr mehrere Tage oder gar Wochen aus den Schulen zu nehmen. Deshalb sind solche Tourneen auf die Ferien beschränkt“, erklärt Johannes Stecher. Viele der Wiltener Sängerknaben wohnen mit ihren Familien nicht in Innsbruck und haben daher eine lange Anfahrt zu den Proben. Florian lebt etwa in Kramsach, Josef in Neustift im Stubaital. Beide sind sich aber einig: „Die Fahrt zahlt sich immer aus!“ Gespannt fiebern die Sängerknaben schon auf Weihnachten hin. Das Weihnachtsoratorium ist neben der Matthäus-Passion für viele das Highlight im Jahr – abgesehen vom Ferienlager selbstverständlich, schmunzeln die Sänger.
Die Wiltener Sängerknaben
Knabenchor mit Tradition
Die Geschichte der Wiltener Sängerknaben reicht bis ins 13. Jahrhundert zurück. Heute gibt es 200 Sänger, die in verschiedene Chöre aufgeteilt sind: Die jüngsten beginnen meist mit fünf oder sechs Jahren im Chor 5, nach und nach steigen sie in die zwei Nachwuchschöre auf, bevor sie im Repertoire- oder gar im Konzertchor mitsingen dürfen. Für junge interessierte Sängerknaben gibt es jährlich Schnupperproben, bei denen Johannes Stecher Rückmeldungen und Empfehlungen an die Eltern abgibt. Wollen ältere Burschen bei den Sängerknaben mitsingen, müssen sie eine Aufnahmeprüfung absolvieren.