Krautinger: Guter Geist in der Flasche
Ein Klarer, der die Geister scheidet: Der Krautinger-Schnaps aus der Wildschönau ist die wohl speziellste Spezialität Tirols. Beim ersten Mal rümpfen viele die Nase, doch oft folgt die Liebe auf den zweiten Schluck.
„Eine Mischung aus Sauerkraut, nassem Hund und Hansi Hinterseers alten Skisocken.“ Diesen Eintrag zeigt Google an, wenn man nach dem „Geschmack von Krautinger“ sucht. Zu lesen ist das auf der Website der „Wilderin“, einer Hochburg der regionalen Tiroler Küche. Es ist eines der wenigen Lokale in Innsbruck, das Krautinger-Schnaps serviert. 70 Kilometer weiter östlich, auf einem der vier Kirchplätze der Wildschönau, würde man für diesen Spruch wohl mit nassen Fetzen davongejagt.
Vier Dörfer, eine Gemeinde: Die Wildschönau ist ein sanftes Hochtal in den Kitzbüheler Alpen. © M. Auer
Altes Gemüse und neue Erträge
Brassica rapa subspecies rapa, so der botanische Name, ist die Grundlage für eine der ungewöhnlichsten Delikatessen Tirols. In der Wildschönau schlicht „Soachruam“ genannt, kann die Weiße Stoppelrübe sowohl roh als auch gekocht verzehrt werden. Bis zur Entdeckung der Kartoffel war sie ein Grundnahrungsmittel in Europa, heute ist die alte Gemüsesorte vielerorts vergessen. Nicht so in der Wildschönau.
Durch ein altes Monopol ist das Hochtal bei Wörgl der einzige Ort in Tirol, in Österreich, ja vermutlich auf dem ganzen Planeten, wo man Stoppelrüben zu Schnaps veredelt. Weil der Obstanbau im Hochtal kaum ertragreich war, hat Kaiserin Maria Theresia den verarmten Bauern vor über 200 Jahren das "Rübenrecht" verliehen. Diese Tradition wird bis heute gelebt.
Josef Thaler ist einer von 16 Krautinger-Brennern in der Wildschönau. © Franz Oss
Rübenduft liegt in der Luft
„Das mit den Skisocken ist natürlich mit einem Augenzwinkern zu verstehen“, sagt Michael Kogler von der Wilderin beinahe entschuldigend. „Aber tatsächlich riecht der Schnaps strenger, als er schmeckt“. Wo die Blume des Krautingers für manche zum Himmel stinkt, erkennen Gourmets hingegen eine feine Gemüsenote. Den Chef-Einkäufer der Wilderin erinnert der Geruch an die Krautfleckerl seiner Oma.
Wie für die meisten Krautinger-Neulinge, hat sich auch für Kogler der Charme des Rübengeistes nicht auf Anhieb erschlossen. „Aber nach ein paar Gläschen fand ich ihn richtig gut. Er ist nicht scharf, am Rachen sogar eher sanft und schmeckt intensiv im Abgang“. Inzwischen ist der Wahl-Tiroler bekennender Krautingerliebhaber und hinter dem Tresen seines Lokals wartet stets eine Flasche auf experimentierfreudige Gäste.
Stoppelrübe, Herbstrübe oder doch Wasserrübe? Eine Pflanze, viele Namen. Daraus Schnaps zu brennen, ist jedenfalls einzigartig. © Franz Oss
Von der Hausapotheke ins Feinkostregal
In der Wildschönau wiederum ist gegen jedes Übel ein Krautinger gewachsen. Bis heute ist der Brand die erste Wahl bei kleineren Gebrechen und größeren Wehwehchen. Vor allem bei Magenproblemen oder als Digestif nach üppigem Essen soll er wahre Wunder wirken. Doch sein Ruf als bäuerliches Arzneimittel greift viel zu kurz. Denn der Krautinger ist längst als Geheimtipp in der Welt der Genussspechte angekommen.
Das hat auch mit der Professionalisierung der Wildschönauer Brennereien zu tun. Wo es früher eher rustikal zuging, sind heute Knowhow und Top-Qualität angesagt. Josef Thaler ist einer von 16 Produzenten im Hochtal. „Ich habe das Brennen als Jugendlicher von meinem Onkel gelernt, mich dann aber immer weitergebildet“, sagt der Bauer vom Steinerhof.
Gerade mal 2.000 Liter Krautinger erzeugen Josef und seine Zunft im Jahr. Alle Brenner haben ihre Tricks und Feinheiten, aber Konkurrenz untereinander gibt es nicht. Was die Produzenten nicht selbst genießen, geht in den Verkauf. Dementsprechend hoch ist der Preis: Um die 60 Euro kostet ein Liter.
Nachwuchs-Brennerin Maritta Thaler tritt in die Fußstapfen ihres Vaters.
Schnapsideen sind Familiensache
Auf dem Steinerhof ist Tochter Maritta dabei, das Ruder zu übernehmen. Mit 26 Jahren ist sie die jüngste Krautinger-Brennerin der Wildschönau. „Ich bin da einfach reingewachsen und wurde so in das Geheimrezept der Familie eingeweiht“, sagt die Jungbäuerin. Gefahr, dass das alte Handwerk in Vergessenheit gerät, besteht also nicht.
Eher im Gegenteil: Wer die Wildschönau besucht, muss den „Geschmack von Krautinger“ sicher nicht googeln. Denn ein Stamperl zur Begrüßung ist Pflicht. Wer sich dann mit dem Rübengeist angefreundet hat, freut sich über Krautinger-Eis im Sommer oder die Krautinger-Woche im Oktober. Selbst ein Lied und ein Theaterstück über das hochgeistige Getränk gibt es. Im Hochtal zwischen Thierbach und Niederau herrscht eben ein besonderer Spirit.