Kuhlonnenverkehr: 17 Kilometer durchs Kaunertal
Er ist einer der letzten seiner Art: Beim Kaunertaler Almauftrieb absolvieren hunderte Rinder einen Marathon bis hinauf auf 2.700 Metern Seehöhe. Eine uralte Tradition, die heute zeitgemäßer denn je ist.
Video: Unterwegs mit den Kaunertaler Hirten und ihren Schützlingen. Heißer Tipp: Untertitel einschalten!
Kilometer null: Dutzende Rinder sind an diesem Junivormittag am Eingang des Kaunertals bereits zusammengekommen. Und sie wirken allesamt klettertauglich: Tiroler Grauvieh, Braunvieh oder Schottische Hochlandrinder. Die Kühe tollen herum, beschnuppern einander oder grasen friedlich am Wegesrand.
Der junge Chefhirte Markus Braunhofer - die meisten nennen ihn schlicht den „Ochsner“ - steht wie ein Fels im Getümmel und registriertet die Neuankömmlinge. Es ist ein besonderer Moment, wenn die Bauern aus der Region ihr Vieh in die Sommerbetreuung abgeben.
In der Mitte: Chefhirte Markus Braunhofer ist für das Wohl von hunderten Kühen verantwortlich.
Der Ochsner und seine Kollegen hüten die Tiere den ganzen Sommer lang. „So haben die Bauern auch mal Zeit für andere Dinge“, sagt Braunhofer. Was auf neudeutsch Work-Life-Balance heißt, hat im Kaunertal eine lange Tradition.
Seit mehr als 500 Jahren ist die Birgalpe „bestoßen“. So heißt das, wenn eine Weidefläche gemeinschaftlich genutzt wird. Die Alm unterhalb des Gepatschferners ist Ochsen und Jungrindern vorbehalten, Milchkühe gehen gesondert in die Sommerfrische.
Austria's Next Topzottel: Schottische Hochlandrinder fühlen sich auch im Kaunertal sehr wohl.
Am Sammelpunkt: Nach und nach kommen weitere Bauern mit ihren Rindern dazu. Anspannung liegt in der Luft. Ob es alle Tiere heil auf den Berg schaffen? Der Ochsner macht Notizen und bleibt cool. Nur das Wetter bereitet ihm Kopfzerbrechen. „Der viele Regen im Mai hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Eigentlich wollten wir schon vor zwei Wochen auffahren“. Und jetzt ist es beinahe schon zu heiß.
Denn „Fahren“ bedeutet im Birgalm-Latein 17 Kilometer Fuß- und Hufmarsch. Andernorts werden die Kühe mit Viehtransportern auf die Hochweide kutschiert. Im Kaunertal müssen sie sich ihre Sommerfrische verdienen. Die Landwirtschaft ist hier so kleinteilig, dass sich LKW nicht rechnen.
Der Almsommer geht los. Für die Hirten eine Mischung aus Vorfreude und Anspannung.
Die Almkultur in Tirol ist eine uralte Form der Landwirtschaft. Sobald die Kühe im Frühling die Wiesen im Tal abgegrast haben, werden sie auf höhergelegene Weiden getrieben. Über den Sommer wächst das Gras auf den Talflächen nach und die Landwirte legen einen Futter-Vorrat für den Winter an.
Auf den Bergen finden die Rinder unterdessen ein reichhaltiges Nahrungsangebot. Bis zu 70 verschiedene Kräuter wachsen auf einem Quadratmeter Almwiese. Und die viele Bewegung im Gelände kommt der Gesundheit der Tiere zusätzlich zugute. Milch und Fleisch der Almkühe schmecken dadurch besonders gut.
Was genau ist eine Alm? Die Antwort findet ihr hier.
"Jede Kuh hat eine eigene Persönlichkeit", sagt Armin Kofler. Der Alpmeister organisiert den Auftrieb auf die Birgalm.
Kilometer 1: Um die Mittagszeit ist die Herde komplett, und der Ochsner gibt das Startsignal: „Wuseeeee!“ schreit er aus voller Brust. Hunderte Kühe setzten sich in Bewegung, sie muhen ohrenbetäubend. Entlang des Weges stoßen weitere Rinder dazu, mehr als 200 werden es am Ende sein.
Etwa die Hälfte der Tiroler Almen ist in Privatbesitz, die andere Hälfte wird – so wie die Birgalm – gemeinschaftlich genutzt. Dass diese Tradition erhalten bleibt, liegt nicht nur im Interesse der Bauern. Dadurch, dass die Tiere die Bergwiesen abgrasen, kommt es zu weniger Bodenerosion, Muren und Lawinen. In Zeiten des Klimawandels ist die Almwirtschaft also zeitgemäßer denn je.
Hunderte Kühe setzen sich zugleich in Bewegung. Das Muhen ist ohrenbetäubend.
Kilometer 2,5: An der Spitze der Karawane regelt die Polizei den Verkehr, heute hat das Vieh Vorrang im Kaunertal. Schnell zeigt sich, warum der Begleitschutz notwendig ist: So manche Kuh-Clique hat anderes im Sinn als einen Wandertag. Wo immer sich eine Lücke in der Straßenbegrenzung auftut oder der Faggenbach verlockend plätschert, büchsen Tiere aus.
Unter Gejohle und Geschrei sorgen die Birgalmhirten und Freiwillige dafür, dass die Rinder auf dem Weg bleiben. Ein Hauch Wildwest liegt in der Luft, nur tragen die Cowboys hier Stock und Tirolerhut. Auch viele Kinder helfen, Nachwuchssorgen plagen die Hirten im Kaunertal scheinbar nicht.
Viele Kinder helfen tatkräftig beim Almauftrieb mit.
Kilometer 5: Auch der Ochsner war von Kindesbeinen an dabei, heute marschiert er zum vierten Mal als Chef in den Almsommer. So mancher Stadtmensch beneidet ihn um seinen Job: Für ein paar Monate weg von Hektik und Hamsterrad. Aber so erfüllend die Zeit da oben ist, leicht ist sie nicht. Schnee, Wind und Hagel können den Alp-Traum schnell in einen Albtraum verwandeln. Markus Braunhofer kann sich trotzdem nichts anderes vorstellen. „Es ist eine große Verantwortung, auf so viele Kühe aufzupassen, aber auch wunderschön“, sagt der junge Familienvater.
Ein guter Hirte braucht Kondition, Geschick und Köpfchen. In kürzester Zeit müssen sich Markus und seine Kollegen die Merkmale von hunderten Rindern einprägen. „Jede Kuh unterscheidet sich in Aussehen und Persönlichkeit. Die Kunst ist, sogar durch das Fernglas zu sehen, welches Tier wem gehört“, sagt Braunhofer. Sollte sich eine Kuh verletzen oder krank werden, muss er den Besitzer verständigen. Ansonsten vertrauen die Bauern darauf, dass er ihre Tiere im Herbst gesund und wohlgenährt ins Tal zurückbringt.
Immer bergauf: Die Almwirtschaft ist eine alte Tradition, die dennoch sehr zeitgemäß ist.
Kilometer 6: Armin Kofler lenkt seinen Geländewagen vorsichtig an einer Schar schottischer Hochlandrinder vorbei. Er ist der Alpmeister der Birgalm und für die Organisation des Almauftriebs verantwortlich. Wie bei einem Marathon sind auch hier Begleitfahrzeuge zur Unterstützung im Einsatz, das Thermometer im Auto zeigt 26 Grad.
„Die Kühe, die jetzt hinterhergehen, sind auch den ganzen Sommer lang hintennach“, weiß Armin Kofler. Alle Rinder haben den Frühling im Freien verbracht, sind gesund und gut trainiert. Dennoch stecken manche den Marsch schlechter weg als andere. „Wir wären gerne schon frühmorgens gestartet, aber das ist logistisch nicht möglich“, erklärt der Alpmeister. Das Handy vibriert. Kurzes Fluchen, Kofler steigt aufs Gas.
Geduld braucht, wer an diesem Tag auf der Kaunertaler Landesstraße unterwegs ist.
Kilometer 8: Die Karawane erstreckt sich inzwischen über weite Teile der Kaunertaler Landesstraße. In kleinen Grüppchen trotten die Rinder stoisch bergauf. Immer wieder kommt es zu stressigen Situationen, wenn sich die Kühe in Richtung Wald verabschieden oder partout eigene Wege gehen wollen. Ein Fall für die Auftreiber.
So mancher Autofahrer dokumentiert das Spektakel mit der Handykamera, andere ärgern sich über den Stau. Auch Parkschäden sind bei so vielen Hörnerpaaren nicht ausgeschlossen. „Aber die Kaunertaler Bauernschaft ist gut versichert. Wir kommen für alles auf “, sagt der Alpmeister Armin Kofler.
Cash Cow: Eine Kuh kostet im Schnitt 1.500 Euro. Die Bauern vertrauen darauf, dass die Tiere im Herbst gesund zurückkommen.
Kilometer 10: Es ist Nachmittag und die Gruppe rund um den Ochsner erreicht Feichten. Am Straßenrand grüßt die Dorfbevölkerung, es gibt Glückwünsche und kaltes Bier zum Mitnehmen. Volksfeststimmung im Kleinen. Auch die Kühe sind durstig. Doch sie müssen noch das kurze Stück bis zur Wasserstelle an der Mautstation der Gletscherstraße durchhalten.
Während die Almabtriebe im Herbst tausende Schaulustige aus aller Welt anlocken, geht der Auftrieb beinahe im Schatten über die Bühne. Denn eine Almsaison ohne Unfälle ist nicht selbstverständlich. Auch bergerfahrenen Kühen kann im schwierigen Gelände etwas passieren. Bleiben Mensch und Tier unversehrt, wird das im Herbst ausgelassen gefeiert. Doch jetzt hoffen die Birgalmhirten erst einmal, dass der Sommer gut über die Bühne geht.
Das Kernteam der Birgalpe. Die Hirten kennen das Almleben von Kindesbeinen an.
Kilometer 10,5: Unterdessen ist auch der Alpmeister in seinem Begleitfahrzeug zurück. Der Grund des Notrufs war ein Ochse, dem die Hitze zu viel wurde. Zwei Bauern buchsieren das schwere und behäbige Tier deshalb in einen Viehanhänger. Widerwillig lässt es der Ochse über sich ergehen. Verstünde er, dass er den Rest der Strecke nun doch im Taxi bewältigen darf, fiele ihm das Einsteigen leichter. „Solche Vorfälle kommen jedes Jahr vor, aber wir sind auf alles vorbereitet. Das Wohl der Tiere steht an erster Stelle“, sagt Armin Kofler.
Immer wieder kommt es zu stressigen Situationen, wenn die Kühe eine "Abkürzung" suchen.
Kilometer 11: An der Wasserstelle stößt Markus‘ ältere Schwester Rebecca dazu und versorgt die Auftreiber mit Brötchen und Getränken. Bevor sie Mama wurde, hat sie selbst auf der Birgalm Kühe gehütet. „Klar ist das eine Männerdomäne. Ich musste mich eben durchsetzen. Als junge Frau hätte mich die anderen sonst nicht ernst genommen“, sagt sie und grinst verschmitzt. Nach der Stärkung geht es weiter, die finale Etappe bis zum Gepatschspeicher.
Beinahe am Ziel: Bei der Staumauer des Gepatschspeichers liegt die erste Hochweide.
Kilometer 16,5: Nach fünf Stunden Fußmarsch ist es beinahe geschafft: Knapp unterhalb der Staumauer breitet sich eine saftige Wiesenlandschaft aus, in deren Mitte ein Bach plätschert. Die Kühe stillen ihren Durst und füllen ihre Mägen mit frischem Almgras. Dann suchen sie sich ein Plätzchen zum Niederlegen und ruhen die müden Hufe aus. „Jetzt haben sie erst mal zwei Tage Muskelkater. Wir bleiben für zwei Wochen hier, danach geht es höher hinauf“, sagt der Alpmeister.
Endlich geschafft. Für die Kühe gibt es frisches Quellwasser, die Hirten bekommen ein bachgekühltes Bier.
Kilometer 17: An einem Dreibein köchelt ein Topf Gulasch, im Bach sind Bier und Limonade eingekühlt. Wer jemals eine lange Wanderung gemacht hat, kennt dieses Hochgefühl: Eine Mischung aus Erschöpfung, Stolz und tiefer Zufriedenheit. Fühlen sich die Kühe auf der Birgalm auch gerade so? „Auf einen guten Sommer!“, sagt der Oberhirte Markus Braunhofer. Alle stoßen an. Prost!