Wie das Leben auf den Tiroler Bauernhöfen wirklich war
Wie der aus Alpbach stammende Hacklerhof aus dem Jahre 1675, in dem ich mich gerade befinde, wurden einige Tiroler Bauernhöfe Jahrhunderte nach ihrer Erbauung nach Kramsach ins Bauernhöfemuseum übersiedelt. Stein für Stein wurden sie abgetragen, wieder original aufgebaut und interessierten Besuchern öffentlich zugänglich gemacht. Im Bauernhöfemuseum kann ich diese Bauernhöfe nicht nur begehen, ich kann anhand der Audio-Guide-App „Tiroler Bauernhöfemuseum“, die mich auf meinen Rundgang begleitet, einige meiner Glaubenssätze über das Leben von Damals auf ihre Richtigkeit hinterfragen.
„Bauernhof ist Bauernhof“
Nein. Die Tiroler Bauernhöfe sind recht unterschiedlich, wenn man genauer hin sieht. Das hat verschiedene Gründe, unter anderem die Wirtschaftsform des Betriebes, herrschaftliche Abhängigkeiten oder das Erbrecht. Prinzipiell besteht ein Gehöft immer aus vier Teilen: Wohnen, Viehhaltung, Vorräte, Geräteaufbewahrung. Wie diese Funktionsgruppen aufgeteilt sind, bestimmt den Stil. Im Oberland findet man vermehrt Paarhöfe und Teilhöfe, in Osttirol Haufenhäufe. Das heißt, die Funktionsgruppen sind auf mehrere Gebäude aufgeteilt. Im Tiroler Unterland hingegeben gibt es hauptsächlich „Einhöfe“, wo Wohn- und Wirtschaftsteil sind in einem Gebäude untergebracht sind. Die populärste Form zeigt einen Mittelflur, der entlang des First verläuft und die Räume trennt. Diese Häuser bestehen meist aus einem gemauerten Erdgeschoss und einem ersten Stock in Blockbauweise, aber auch Häuser ganz aus Holz findet man immer wieder. Natürlich gibt es auch eine Vielzahl von Mischformen durch Zu- und Umbauten im Laufe der Zeit aufgrund veränderter Bedürfnisse und Anforderungen.
Der Gwiggen Hof, 1625, ist ein Einhof aus der Wildschönau, hier ist auch das Erdgschoß gänzlich aus Holz gebaut.
„Alter Segger“, zwischen 1370 und 1420, aus Kartisch. Ein typischer Osttiroler Haufenhof, Wohnhaus und Wirtschaftsgebäude stehen unregelmäßig zueinander.
„Der älteste Sohn erbte alles“
Nicht überall, im Tiroler Oberland gab es im Erbrecht die sogenannte Realteilung. Das bedeutet, dass der Hof unter allen Nachkommen aufgeteilt wurde. Realteilungshöfe sind größer konzipiert, weil mehrere Familien dort zusammen leben mussten. Die Grundstücke wurden aufgeteilt und mit der Zeit wurden aus großen Feldern schmale Streifen, die kaum für genügend Ernte sorgen konnten. Eine Armutsfalle. Die Dorfkerne im Oberland sind gekennzeichnet durch das Aneinanderreihen von Höfen. Wenn Häuser so eng aneinander gebaut sind, ist die Brandgefahr höher, deshalb waren die meisten Häuser aus Stein. Im Unterland dagegen hat man fast nur Holz als Baumaterial verwendet. Hier sind die Bauernhöfe in Streusiedlungen zu finden und somit war die Gefahr eines übergreifenden Feuers von einem Nachbargebäude nicht so groß. Die Streusiedlungen gab es, weil hier das Erbrecht ganz anders geregelt worden ist. Der älteste und fähigste männliche Nachkomme erbte alles, die Geschwister blieben meist Arbeitskräfte am Hof oder gingen ins Kloster. Wirtschaftlich gesehen wohl das bessere Model. Aus menschlicher Sicht bin ich mir nicht ganz sicher.
„Die Frauen hatten nichts zu sagen“
Leider stimmte das. Gesetzlich war der Mann Vormund der Frau, egal ob Vater, Bruder oder Ehemann. Die Frauen waren vorwiegend für das Aufziehen der meist zahlreichen Kinder zuständig und für alles, was im Haus gemacht werden musste, wie das Kochen. Die Frau am Hof hatte kaum Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen. Eine Ehe war eine Zweckgemeinschaft. Nur bei groben Verfehlungen ihres Mannes die wirtschaftliche Situation des Hofes betreffend hatte die Frau ein Einspruchsrecht. Zum Beispiel bei Trunksucht oder Geisteskrankheit.
Alte Küche im Gwiggen Hof, Wildschönau, aus dem Jahre 1625
„Bauernhochzeiten waren Liebeshochzeiten“
Das glaubt, wer zu viele Heimatfilme aus den Fünziger Jahren gesehen hat. Die Heirat galt als Versorgungsgemeinschaft, Liebe spielte hier keine Rolle. Es wurde in keinerlei Weise auf die Persönlichkeiten eingegangen. Man musste miteinander auskommen und zwar ein Leben lang. Scheiden lassen konnte man sich nicht (Scheidungsrecht gibt es erst ab dem 20. Jhdt), man blieb ein Leben lang zusammen. Unglückliches Zusammenleben gehörte somit oft zum schweren Alltag dazu. Und fand erst im wahrsten Sinne des Wortes bei „Bis dass der Tod euch scheidet“ die tragische Erlösung. Starb dem Bauer seine Frau, wurde nicht selten sofort die Schwester der Verstorbenen geheiratet. Wieder aus Versorgungsgründen, versteht sich.
„Die Bauern waren reiche Leute“
Wohl kaum. Der Bauer von damals war zwar autark, er bearbeitete die Felder, betrieb Viehzucht und baute Flachs für die Eigenproduktion von Stoffen für Kleidung sowie Betten an. Aber wie erfolgreich er damit war, bestimmten die klimatischen Bedingungen und das Wetter. In schlechten Erntejahren, wenn der Ertrag mehr als dürftig gewesen war und dadurch die Vorräte nicht über den Winter reichten, drohten immer wieder Hungersnöte. Reich waren im Verhältnis wohl die Adeligen, die ganz früher die Höfe an die Bauern verpachteten. Sie forderten ihren Anteil an der Ernte ein, ganz egal, wie gut die Ernte gewesen war. Ohne Rücksicht auf die Versorgung der Bewohner des Hofes.
Schlafkammer im Wohnhaus des Paarhofes Tierstaller, Pfalzen, aus dem Jahre 1557
„Ein weiteres Maul zu stopfen war kein Problem“
Ich hab immer gedacht, dass ein Kind mehr oder weniger auf so einem großen Hof bestimmt kein Problem gewesen ist. Leider doch. In den ärmsten Gegenden Tirols konnten die meisten Kinder am Hof zeitweise nicht ernährt werden. Diese Kinder wurden im Alter zwischen 6 und 14 Jahren auf Kindermärkten weiter vermittelt, um in Schwaben Vieh zu hüten. Lohn gab es nicht, nur freie Kost und Logis. Schulpflichtige Schwabenkinder waren von der Schulpflicht während dieser Zeit befreit. Als diese Regelung fiel, hörte das mit den Schwabenkindern auf, es rentierte sich nicht mehr. Zur Schule gingen sie trotzdem nicht das ganze Jahr. Als Arbeitskraft wurden sie am Feld gebraucht. Wenn nicht so viel zu tun war, wurden die Kinder in die Schule geschickt, um das Allernötigste zu lernen.
„Die Bauern trugen stets ihre Lederhosen“
Davon war ich überzeugt, stimmt aber nicht. Lederhosen waren lange zu kostbar, weil Leder sehr teuer war. Die Bauern waren bis zur Einführung der hautfreundlicheren und angenehmeren Baumwolle aus Amerika mit Stoffen aus Flachs gekleidet. Dieser Flachs wurde selbst angebaut, von den Bäuerinnen gesponnen und zu Stoffen verarbeitet. Gerade im Tiroler Unterland, wo die Berge etwas flacher sind, wurde sehr viel Flachs angebaut. Wenn ich mir vorstelle, ein Shirt aus Flachs anzuziehen, juckt es mich am ganzen Körper. Die Leute von damals haben dieses Jucken wohl nicht mehr gespürt.
„Jedes Bauernhaus hatte sein Plumpsklo“
Als Kind kann ich mich noch an die Holz-Aborte erinnern, die irgendwo am Haus angebaut waren, manche alten Almhütten haben sie heute noch. Diese Aborte gab es jedoch nicht von Anfang an, sondern kamen erst im 18. Jhdt auf die Höfe. Bis dahin wurde die Notdurft einfach im Stall bei den Tieren oder nachts im Mondschein vom Balkon herunter erledigt. Die Körperhygiene wurde ebenfalls erst gegen Mitte den 18. Jahrhunderts langsam ein Thema. Davor wusch man sich nicht, vielleicht ab und zu einmal das Gesicht oder die Hände, die Wäsche wurde auch selten gereinigt. Der Friseur wäre damals arbeitslos gewesen und von Kosmetik rede ich gar nicht. Was wir heute als sehr eklig empfinden, war damals ganz normal. Wenn jeder die gleiche Duftwolke nachzog wie man selbst, wird es schon gepasst haben.
Stube mit Hergottswinkel vom Gwiggenhof, Wildschönau, 1625
„Die Bauern lebten gesund“
Keine Emulgatoren, Aromastoffe oder Konservierungsmittel. Man möchte meinen, dass die Bauern, die sich automatisch biologisch ernährten und an der frischenLuft am Feld arbeiteten, besonders gesund gewesen sein müssten. Ja, wären da nicht die Abnutzungserscheinungen des Körpers aufgrund der harten Arbeit gewesen. Oder Infektionen aufgrund mangelnder Hygiene und fehlender ärztlicher Versorgung auf den abgelegenden Höfen. Oder das Aufbrauchen aller zu Verfügung stehenden Lebensmittel, auch bei Schimmelbefall oder Verdorbenheit. All das belastete den Organismus schwer. Von gesund kann keine Rede sein.
„Im Winter waren die Stuben besonders gemütlich“
Eher nicht. Die Stuben waren im Winter überheizt und vollbesetzt. Es wurden Arbeiten dort gemacht, für die den Sommer über wenig Zeit war, wie nähen, stricken, Werkzeuge richten und Flachs spinnen. Da kaum gelüftet wurde, gab es immer wieder Sauerstoffmangel. Man erzählt sich, dass beim Spinnen so manche Spinnerin bewusstlos vom Stuhl gefallen war – aus Atemnot. Daher soll die Bezeichnung „Die spinnt“ kommen, weil die vom Stuhl Gefallene aufgrund des Sauerstoffmangels nicht mehr ganz bei sich gewesen war.
Werkstatt im Haufenhof „Alter Segger“, Kartitsch, erbaut zwischen 1370 und 1420
Noch mehr Interessantes über das Leben auf den Tiroler Bauernhöfen erfahrt ihr hier: Museum Tiroler Bauernhöfe
Dort gibt es auch den Link zu der interessanten und kostenlosen App.