Waldlust
Ich stehe stumm im Wald und starre Bäume an. Minutenlang. Das hört sich ein bisschen merkwürdig an, erstaunlicherweise fühle ich mich aber nicht so. Ich stehe einfach da und präge mir alle Details ein: Dunkelgrüne Tannen, meterhohe Fichten, hellgrün leuchtende Buchen im Sonnenlicht, dazwischen ein ausgetretener Trampelpfad. Später werde ich barfuß über weiches Moos, Fichtennadeln und durch Ameisenstraßen laufen und kleine Stöckchen mit den Zehen weitergeben. Auch das hört sich eigenartig an, hat sich aber gut angefühlt, so viel sei schon verraten.
Naturcoach Verena Hiltpold
Verena Hiltpolt ist mein Meister Yoda im Kampf gegen die dunklen Mächte des Alltagsstress
Von all dem weiß ich natürlich noch nichts, als ich im Wald vor mich hinstarre. Ich will einfach nur dem Stress entfliehen. Deadlines für Texte, die ich noch nicht einmal begonnen habe, sitzen mir im Nacken. Die Buchhaltung – härteste Krux für mich als Selbstständige – ist fällig. Ich vergesse ständig, auf die Whatsapp-Nachrichten meiner Freunde zu antworten. Dann ist da noch die brütende Sommerhitze, die mich auch nachts nicht schlafen lässt. Also liege ich wach und sinniere über Texte, die ich noch nicht angefangen habe, denke an die Buchhaltung und daran, dass ich bald ein Leben ohne Freunde führen werde. Ein Teufelskreis.
Jetzt soll das Waldbaden in Seefeld meine Auszeit sein und Verena Hiltpolt mein Meister Yoda im Kampf gegen die dunklen Mächte des Alltagsstress. Verena ist geprüfter NaturCoach und hat sich auf das Waldbaden spezialisiert. Sie wirkt, als würde sie nichts und niemand aus der Ruhe bringen können. Genau das brauche ich.
Das satte Grün im Wald wirkt sich positiv auf unsere Psyche aus
Eigentlich heißt Waldbaden „Shinrin Yoku“ und kommt aus Japan. Dort wurde es in den 1980ern erstmals als Anti-Stress-Therapie eingesetzt. Damals verstarben erstmals ein Arbeiter und ein hochrangiger Manager an den Folgen von Stress. Zum Glück bin ich davon noch sehr weit entfernt. Aber japanischen Workaholics wird seit dieser Zeit von Medizinern der Waldbesuch als Prävention empfohlen. Die positiven Auswirkungen des Waldes auf unsere Gesundheit sind mittlerweile sogar wissenschaftlich belegt: Japanische und amerikanische Universitätsstudien zeigen, dass Atemwege, Herz-Kreislaufsystem und unsere Abwehrkräfte vom Waldbaden profitieren. Hauptgrund dafür sind die Terpene. Das sind aromatischen Duftstoffe, die von den Bäumen abgegeben werden. Das satte Grün, das im Wald in vielen verschiedenen Schattierungen erscheint, wirkt sich zudem positiv auf unsere Psyche aus.
Allen wissenschaftlichen Belegen zum Trotz bleibe ich skeptisch. Schließlich bin ich, ganz wie es sich für eine „echte Tirolerin“ gehört, dauernd in der Natur und oft im Wald unterwegs. Was also macht beim Waldbaden den Unterschied?
Achtsam sein, das steht im Vordergrund: Es gehe gar nicht darum, eine möglichst weite Strecke im Wald zu spazieren, vielmehr sollen wir bewusst erleben, erklärt Coach Verena. Wahrscheinlich bleibt unser Trupp deshalb auch nach 20 Metern das erste Mal stehen. Wir zeichnen mit den Fingern die Silhoutte der Landschaft, Baumwipfel und Berggipfel, nach. Tiefer im Wald schütteln und klopfen wir unsere Glieder ab, streichen uns über die Augen, atmen tief ein und aus. Das sei die Einstimmung gewesen, sagt Verena. „Und nun wird es langweilig.“
Jetzt ist das Starren vom Anfang meiner Geschichte dran. Natürlich nennt Verena es nicht starren. Vielmehr sollen wir den Wald wie durch ein Fenster betrachten und uns einen Ausschnitt suchen, der uns besonders gefällt. Dann lässt sie uns stehen und ich versuche, mich zu konzentrieren. Keine leichte Übung, aber nach einer Weile fällt mir auf, wie laut der Wind durch die Blätter rauscht.
Dann stemmen wir uns gegen Baumstämme, lehnen uns an starken Fichten an und schauen in den Himmel. Ich sehe, wie sich die Baumkrone im Wind wiegt und bemerke zum ersten Mal, dass sich der Stamm der Buche viel kühler anfühlt als der Stamm anderer Bäume. Wie wir alle so dastehen, jeder bei seinem eigenen Baum, das muss ein bisschen verrückt aussehen. „Manche sagen tatsächlich: Jetzt gehen sie wieder Bäume umarmen“, berichtet Verena.
Knapp zwei Stunden waren wir im Wald unterwegs, angefühlt hat es sich wie ein Kurzurlaub
Bei einer kleinen Lichtung ziehen wir die Schuhe aus und laufen über den Waldboden. Das fühlt sich manchmal kühl und angenehm weich an, manchmal bohren sich spitze Holzstücke in die Fußsohlen. Aber man gewöhnt sich schnell. Nach kurzer Zeit testen wir Gleichgewicht und Geschicklichkeit, indem wir Holzstöckchen mit den Zehen weitergeben und Tannenzapfen balancieren. Verena führt uns barfuß einen kleinen Weg entlang. Das ist allerdings nicht nur unsere Route, sie wird auch von hunderten flinken Waldameisen bevölkert. Wo ich normalerweise unbedacht entlang marschiere, setze ich nun einen Fuß vor den anderen. Die Waldameisen klettern trotzdem auf meine nackten Zehen.
Alle Fotos: Tirol Werbung/Charly Schwarz
Am Schluss sitzen wir auf einer Wiese, den Wald im Rücken. Das Gras wurde erst vor kurzem gemäht, die Heuballen sind schon aufgerollt, der sommerliche Heuduft liegt uns in der Nase. Verena erzählt von ihren Führungen, von Gästen, die auch bei strömendem Regen mit ihr unterwegs waren, vom besonders aromatischen Duft der Tannennadeln im Winter. Ich höre nur mit einem Ohr zu, spüre lieber noch das Gras zwischen meinen Zehen und zerreibe Wiesenkräuter mit meinen Fingern. Knapp zwei Stunden waren wir im Wald unterwegs, angefühlt hat es sich wie ein Kurzurlaub. Verena gibt mir zum Abschied ein grünes Filzband mit. Wie der Knoten im Taschentuch soll es mich an meinen Waldausschnitt erinnern, den ich mir beim stummen Starren eingeprägt habe. Ich hänge es am nächsten Tag ins Büro.